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  • Facetten literarischer Zorndarstellungen. Analysen ausgewählter Texte der mittelalterlichen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts unter Berücksichtigung der Gattungsfrage
  • Hildegard Elisabeth Keller
Facetten literarischer Zorndarstellungen. Analysen ausgewählter Texte der mittelalterlichen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts unter Berücksichtigung der Gattungsfrage. By Thorsten W. D. Martini. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2009. Pp. X + 387. EUR 48.

Die Studie, eine germanistische Dissertation an der Universität Karlsruhe, widmet sich der literarischen Zorndarstellung in mittelhochdeutschen Erzählwerken und somit einem der—vergleichsweise weniger erforschten—Phänomene innerhalb der seit einigen Jahren boomenden Emotionalitätsforschung in der Mediävistik. Die geleistete Arbeit, dem Titel gemäss „Facetten“ des literarischen Ausdrucks von Zorn aufzuzeigen, ist sehr verdankenswert. Im Konsens mit der eingangs referierten bisherigen Forschung wird deutlich, wie ‚unfest’ dieser Untersuchungsgegenstand ist. Die Untersuchung zeigt dann, dass er dies immer mehr wird, wenn man ihn erstens durch verschiedene Gattungen hindurch verfolgt und zweitens Kernelemente der erzählerischen Ökonomie wie Spannungsaufbau, Handlungs-motivierung und -auslösung mitberücksichtigt.

Die sehr detaillierte Arbeit analysiert narrative Texte aus dem Hoch- und Spätmittelalter (Herzog Ernst, Erec, Iwein, Daniel, Eckenlied, Kudrun, Reinhart Fuchs) und deckt somit ein sehr breites Spektrum an narrativen Gattungen ab. Was sich im Lauf der Untersuchung verfestigt, ist die Gewissheit, dass die literarischen Ausdrucksweisen des Zorns vieldeutig, ambivalent und polyfunktional sind—weit mehr noch als andere Untersuchungsgegenstände der historischen Emotionsforschung. Nach der Einleitung und vor der eigentlichen Textanalyse vermitteln insgesamt fünf Kapitel grundlegende Informationen, beispielsweise zur historischen Emotionsforschung, zum Zorn und zur Textauswahl. Dieser propädeutische Teil [End Page 551] umfasst mehr als einen Drittel der gesamten Untersuchung. Der Autor scheut keinen Umweg über forschungsgeschichtliche oder gattungstheoretische Exkurse, um sein Forschungsvorhaben zu kontextualisieren und das von ihm untersuchte Textkorpus zu legitimieren.

Dass ein solch langer Weg zu dem eigentlichen Ausgangspunkt der Untersuchung beschritten wird und diesem tatsächlich angemessen sein könnte, legt die forschungsgeschichtliche Zeittiefe nahe. Das Forschungsgebiet der historischen Emotionsforschung—sie schenkte traditionellerweise grossen Begriffen wie Liebe, Angst, Scham viel Aufmerksamkeit—zählt zu den Klassikern der Interdisziplinarität, auch wenn sich die Terminologien ebenso oft verändert haben wie die Bereitschaft sukzessiv abgenommen hat, das in historischen oder literarischen dokumentierte Phänomen mit dem von Menschen Erlebtem zu identifizieren oder auch nur zu korrelieren. Martini dokumentiert die internationale Beschäftigung mit dem Gegenstand Passion/Affekt/Mentalität/Emotion/Zorn seit Johan Huizinga, der Annales-Schule und Norbert Elias bis in die jüngste Gegenwart, kenntnisreich, wenngleich nicht ohne Lücken, mit Fairness gegenüber anderen Deutungsansätzen, wenngleich nicht so kritisch, wie Anwälte der Primärtexte im rasant gewachsenen Dickicht der Sekundär- und Tertiärdiskurse werden könnten.

Spielarten des Zorns und seine Funktionen rückte die Forschung erst ziemlich spät ins Licht, intensiviert seit den ausgehenden Neunzigerjahren mit Paukenschlägen der amerikanischen Forschung unter Barbara Rosenwein und dem 2006 vorgelegten kulturtheoretischen Coup von Peter Sloterdijk, der aus der Kulturgeschichte im Zeichen des Zorns herleitete, wie soziale Institutionen zur Emotionshortung und -reinvestition entstanden. Homers Beschreibung von Achilles’ Zorn in der Ilias bietet sich als Sprungbrett für das kultur- und literaturgeschichtliche Nachdenken über Zorn an; sowohl Martini als auch Sloterdijk, von denen der erstere die Forschung des letzteren nur knapp antippt, nutzten es verständlicherweise. Die erhaltenen schriftlichen Zeugnisse belegen, dass kraftvolle Emotionen wie der Zorn—ihrem Namen gemäss—den Motor auch des Erzählens, Beschwörens und Erinnerns darstellen.

Martinis Interpretationen der mittelhochdeutschen Werke gelingen dann auf besonders eindrückliche Weise, wenn er in den Texten aufzeigen kann, dass der Zorn das Erzählen—auf faszinierend unterschiedliche Weise—in Gang setzt, mit Schubkraft auflädt, antreibt und beschleunigt. An den Kräften, die den Prozess des Erzählens dynamisieren, haben natürlich auch die Protagonisten Anteil, im selteneren Fall mit wertpositiver Wirkung: Erec erweist sich dank der durch Zorn angeheizten Kampfesbereitschaft als resistenter Held und Ehemann. Die Texte lassen somit hie und da zu, dass das zorngetriebene Handeln zu seinem (meist Kampf-) Erfolg führt, sehr oft aber zeigen sie seine Engführung in blindem Wüten: Zorn treibt das menschliche Handeln nicht nur weit über das Ziel hinaus, sondern versengt differenziertere Verhaltensweisen wie Dietrichs Feueratem den Wald. Gerade dies...

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