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  • „Still und bewegt".Rahel Levins Konstellationen
  • Barbara Hahn (bio)

„Sie schien auf mich wie ein schönes Himmelsgestirn, ohne davon zu wissen", so lesen wir in einem Brief Friedrich Ludwig Wilhelm Meyers, den dieser am 19. August 1833 an Karl August Varnhagen richtete. Meyer bedankte sich für die einbändige Ausgabe des Buch des Andenkens, die ihm Varnhagen geschenkt hatte. „Entschiede das Alter über den Werth eines Bekannten der Verklärten", so heißt es weiter,

so ständ' ich vielleicht obenan. Schon ihren Vater, den personifiziertesten Naturwitz, der mir jemals vorgekommen, hab' ich im Sommer 1780 oft und gern getroffen. Seine Tochter sah' ich und sucht' ich, von 1792 bis im Sommer 1797, und im Winter des lezten Jahrhunderts, in und außer ihrem Hause, und verließ sie mit immer gesteigerter Theilnahme.1

Meyer, der seit Jahrzehnten als Privatgelehrter und Übersetzer auf seinem Gut Bramstedt in der Nähe von Hamburg lebte, stand mit Rahel Levin sehr wahrscheinlich nicht im Briefwechsel. In der Sammlung Varnhagen, die auch den Nachlaß von Rahel Levin bewahrt, sind keine Briefe an sie überliefert. Nur dieser eine an Varnhagen.

Wie Meyer das ihm zugesandte Buch liest, ist bemerkenswert. Seine Lektüre antwortet sehr genau auf die Titelseite. Diese lautet: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, darunter, leicht nach rechts verschoben, ist zu lesen: „Still und bewegt—Hyperion". Als „Bekannten" der Verstorbenen erklärt sich der Briefschreiber gleich zu Beginn seines Schreibens. Bei ihm ist das Buch an der richtigen Adresse angekommen. [End Page 486] Daß die zusammengestellten Briefe und Aufzeichnungen nicht unter einem Autornamen versammelt wurden, beantwortet Meyer, indem er den Namen der Verfasserin nun ebenfalls nicht nennt. Von der „Verklärten" ist die Rede, von einer „Tochter", die der Schreiber im Winter eines vergangenen Jahrhunderts oft sprach.2 Der Hinweis auf ein „schönes Himmelsgestirn", das Meyer beschien, nimmt das Motto auf, das nicht nur dieser, sondern allen Fassungen des Buch des Andenkens vorangestellt ist.3

„Still und bewegt—Hyperion": Hyperion ist der Titel des einzigen Romans von Friedrich Hölderlin. Hyperion ist der Name der Hauptfigur des Buchs, die in einem Brief an den Freund Bellarmin schreibt:

Mir ist lange nicht gewesen, wie jetzt. Wie Jupiters Adler dem Gesange der Musen, lausch ich dem wunderbaren unendlichen Wohllaut in mir. Unangefochten an Sinn und Seele, stark und fröhlich, mit lächelndem Ernste, spiel ich im Geiste mit dem Schicksal und den drei Schwestern, den heiligen Parzen. Voll göttlicher Jugend frohlockt mein ganzes Wesen über sich selbst, über Alles. Wie der Sternenhimmel, bin ich still und bewegt.4

Hyperion—ein Buch, komponiert aus Briefen, das Rahel Levin mit großer Sicherheit gelesen hat.5 Ein Buch, das sie in ihren Briefen nicht weiter kommentiert. Doch die Anordnung der Texte in ihrem [End Page 487] Buch korrespondiert diesem Motto: still und bewegt. Konstellierend verfahren die einzelnen Texte, konstellierend ist die Darstellungsweise des Buches. Über „Konstellation", ein Wort, das gerade erst aus der Astronomie und der Astrologie in andere Felder des Wissens wanderte, finden sich in ihren Briefen und Aufzeichnungen die ungewöhnlichsten Überlegungen. Bereits in der ersten Fassung von 1833 lesen wir ein Echo dieses Mottos: „Sie ist, soweit ich sie kenne, in jedem Augenblicke sich gleich, immer in einer eigenen Art bewegt, und doch ruhig,—kurz, sie ist, was ich eine schöne Seele nennen möchte; man fühlt sich, je näher man sie kennen lernt, desto mehr angezogen, und lieblich gehalten" (BDA I, 132). So Goethe im September 1795 über Rahel Levin. Ein Motto und ein Echo. Bevor die Schreiberin selbst zu Wort kommt, sind die Leser aufgefordert, ihr Buch Rahel auf eine bestimmte Weise zu lesen: wie den Sternenhimmel, eine Kon-Stellation, die sich dreht und doch immer und immer sich gleich bleibt. Wie etwas, das sich nur aus der Perspektive eines Beobachters ergibt und erschließt. Auf diese Beobachter—oder Leser—ist das Buch orientiert. Rahel, dieser Name, der im Buch selbst selten fällt, bezeichnet die historischen Koordinaten, die das Projekt Buch des Andenkens bestimmen. Nicht Friedrike Varnhagen, die viele, viele Briefe unterzeichnete, sondern dieser „falsche" Name, den in Deutschland damals niemand tragen konnte, der dazugehörte.

Rahel. Ein Buch des Andenkens...

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