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  • Hallers Doris und Hirzels Daphne. Notizen zu Klopstocks Gedicht „Der Zürchersee"
  • Roland Reuß (bio)

Der Zürchersee. 1

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung PrachtAuf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,Das den großen GedankenDeiner Schöpfung noch Einmal denkt.

    Von des schimmernden Sees Traubengestaden her,Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf,Komm in röthendem StraleAuf dem Flügel der Abendluft,

    Kom, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn,Süße Freude, wie du! gleich dem beseelterenSchnellen Jauchzen des Jünglings,Sanft, der fühlenden Fanny gleich. [End Page 495]

    Schon lag hinter uns weit Uto, an dessen FußZürch in ruhigem Thal freye Bewohner nährt;Schon war manches GebirgeVoll von Reben vorbeygeflohn.

    Jetzt entwölkte sich fern silberner Alpen Höh,Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender,Schon verrieth es beredterSich der schönen Begleiterin.

    „Hallers Doris," die sang, selber des Liedes werth,Hirzels Daphne, den Kleist innig wie Gleimen liebt;Und wir Jünglinge sangen,Und empfanden, wie Hagedorn,

    Jetzo nahm uns die Au in die beschattendenKühlen Arme des Walds, welcher die Insel krönt;Da, da kamest du, Freude!Volles Masses auf uns herab!

    Göttin Freude, du selbst! dich, wir empfanden dich!Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit,Deiner Unschuld Gespielin,Die sich über uns ganz ergoß!

    Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeistrung Hauch,Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem sanftIn der Jünglinge Herzen,Und die Herzen der Mädchen gießt.

    Ach du machst das Gefühl siegend, es steigt durch dichJede blühende Brust schöner, und bebender,Lauter redet der LiebeNun entzauberter Mund durch dich!

    Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen,Beßre sanftere Lust, wenn er Gedanken winkt,Im sokratischen BecherVon der thauenden Ros' umkränzt;

    Wenn er dringt bis ins Herz, und zu Entschliessungen,Die der Säufer verkennt, jeden Gedanken weckt,Wenn er lehret verachten,Was nicht würdig des Weisen ist.

    Reizvoll klinget des Ruhms lockender SilbertonIn das schlagende Herz, und die UnsterblichkeitIst ein grosser Gedanke,Ist des Schweisses der Edlen werth! [End Page 496]

    Durch der Lieder Gewalt, bey der UrenkelinSohn und Tochter noch seyn; mit der Entzückung TonOft beym Namen genennet,Oft gerufen vom Grabe her,

    Dann ihr sanfteres Herz bilden, und, Liebe, dich,Fromme Tugend, dich auch gießen ins sanfte Herz,Ist, beym Himmel! nicht wenig!Ist des Schweisses der Edlen werth!

    Aber süßer ist noch, schöner und reizender,In dem Arme des Freunds wissen ein Freund zu seyn!So das Leben geniessen,Nicht unwürdig der Ewigkeit!

    Treuer Zärtlichkeit voll, in den Umschattungen,In den Lüften des Walds, und mit gesenktem Blick,Auf die silberne Welle,That ich schweigend den frommen Wunsch:

    Wäret ihr auch bey uns, die ihr mich ferne liebt,In des Vaterlands Schooß einsam von mir verstreut,Die in seligen StundenMeine suchende Seele fand;

    O so bauten wir hier Hütten der Freundschaft uns!Ewig wohnten wir hier, ewig! Der SchattenwaldWandelt' uns sich in Tempe,Jenes Thal in Elysium!

In vielerlei Hinsicht haben wir es heute leichter, uns mit dem imponierenden Œuvre zu beschäftigen, das Klopstock hinterlassen hat. Frühere Generationen, geprägt durch die Verdikte der Literatur-politik Schillers und Goethes, hatten, selbst dort, wo sie Klopstock wohlgesonnen waren,2 seinem Werk nur noch regionale (‚historische') Bedeutung zugemessen. Mit dem allmählichen Herabsinken der imperial dekretierenden Stellung der beiden Weimarer über die Literaturgeschichtsschreibung, dem gleichzeitigen Aufgehen des Hölderlinschen wie des Kleistschen Sterns und der Etablierung einer modernen Verssprache verschoben sich die Maßstäbe.3 Das Studium [End Page 497] des Klopstockschen Werks konnte von da an ohne Verzerrung durch die klassizistische Brille einsetzen, und, wie es im Bereich der Musik zunehmend mehr möglich ist, die Eigentümlichkeit etwa der experimentellen Kompositionen Carl Philipp Emanuel Bachs nicht nur als ‚Vorstufe' der Wiener Klassik, sondern in ihrer eigenen Bedeutung wahrzunehmen,4 so erlaubt ein neuer Blick auf die zentralen Texte des früh (und zurecht) als europäisches Phänomen wahrgenommenen Autors Klopstock die...

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