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  • Darstellung des Ungedachten.Zum konstellativen Verfahren in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas
  • Marianne Schuller (bio)

Eines der großen Forschungsprojekte aus der Spätzeit Aby Warburgs war der Bilderatlas MNEMOSYNE.1 An diesem Projekt hat Warburg von 1924, dem Jahr seiner Rückkehr aus der psychiatrischen Klinik Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee bis zu seinem Tod im Jahre 1929 gearbeitet.2 Wie das nach einer Zeichnung von Fritz Schumacher gefertigte Wort „Mnemosyne" über dem Eingang der von Warburg gegründeten und gestalteten „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg" steht, so fungiert es auch als Taufname für den Bilderatlas: „Mnemosyne" ist nicht nur die Mutter der neun Musen, sondern zugleich die antike Personifizierung des Gedächtnisses. Wie die Bibliothek so ist auch der Bilderatlas dem Gedächtnis gewidmet. Jedoch übernehmen die zum Atlas versammelten Bilder keineswegs die Funktion einer „Gedächtnisstütze",3 [End Page 581] noch die, vorhandene Gedächtniskonzepte zu illustrieren. Während die illustrative Veranschaulichung eine bereits bestehende Vorstellung von Gedächtnis sowie eine bereits bestehende Interpretationsvorstellung von Bildern voraussetzt, öffnet sich der Bilderatlas MNEMOSYNE auf eine andere Dimension von Bild und Gedächtnis: Es geht bei den Bildern und ihrer Anordnung um das Erscheinen eines nicht Gewussten, das, indem es erscheint, allererst denkbar wird.

Dieses Erscheinen eines Nicht-Gewussten steht im Zeichen eines für Warburg grundlegenden Begriffs: des Begriffs Nachleben. Wenn Nachleben meint, dass etwas Vergangenes—auch wenn wir es nie besessen haben—unendlich fortlebt, so zeigt sich dieses Fortleben darin, dass eine, die Erinnerung hervorbringende Rückkehr zu irgendeinem unvorhersehbaren Zeitpunkt notwendig wird. In dem Maße, wie mit dieser Wiederkehr der Zeitpunkt aus der chronologischen Zeitreihe heraus springt, konstituiert sich geschichtliche Zeit als (zwanghafte) Wiederkehr: als ein geisterhaftes Nachleben scheinbar abgelebter Formen. Dabei stehen solche Formen im Vordergrund, die Warburg als bewegtes Beiwerk bezeichnet: Es sind die flatternden Gewänder und die wie von Wind bewegten Haare der Figuren, in denen sich das Nachleben zur Geltung bringt. In diesem bewegten Beiwerk sieht Warburg die Dynamik unbewusster Affekte am Werke, welche sich in unzeitgemäß wiederkehrenden Bildern zur Darstellung bringen. Wird Warburg dieses bewegte Beiwerk unter dem Titel Pathosformeln fassen, so ist eine zwischen polaren Gegensätzen oszillierende, widersprüchliche Dynamik angesprochen, welche sich, einer Tagebuchnotiz zufolge, zwischen der Figurierung als ekstatischer Nymphe und trauerndem Flussgott bewegt:

Manchmal kommt es mir vor, als ob ich als Psychohistoriker die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiographischem Reflex abzuleiten versuche: die ekstatische Nymphe (manisch) einerseits und der trauernde Flußgott (depressiv) andererseits. Das alte Contrasto-Spiel: Vita activa und vita contemplativa.4

Damit ist an die Stelle des mit Georgio Vasari etablierten natürlichen Modells der (Kunst-)Geschichte als Kreislauf von Leben und Tod, von Aufstieg, Größe und Verfall ein symbolisches Modell getreten, das, wie bei [End Page 582] Freud, das Ungewusste, Ungedachte und Unbewusste als das entdeckt, was die Formen der Geschichte hervorbringt und bestimmt.5 Auch wenn Warburg das Nachleben vor allem als Nachleben der Antike in der europäischen Renaissance-Kultur im Blick hatte, ist das Konzept verallgemeinerungsfähig: Es ist die Grundlage für eine Theorie der Kunst- und Kulturgeschichte der Bilder, die sich zwischen Wissen und Phantasma auf unvorhersehbare, sich verstreuende und rhizomhaft sich fortsetzende Weise bewegt. Entsprechend erschöpft sich der Mnemosyne-Atlas nicht in der resümierenden Zusammenschau des vorhandenen Bildwissens vom Gedächtnis, wie er nicht der Linearität und Intention implizierenden theoretischen Figur des Einflusses—etwa als Einfluss der Antike seit der Renaissance—folgt. Vielmehr geht es darum, in der Darstellung und qua Darstellung das geisterhafte Nachleben in seiner ungewussten, die Bilder prägenden Funktion denkbar werden zu lassen. Mit diesem emphatischen Begriff von Darstellung nun schlägt die Stunde der Konstellation.

Der Bilderatlas MNEMOSYNE steht in Zusammenhang mit einem Ausstellungsprojekt, das Warburg in dem berühmten Lesesaal der von ihm konzipierten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in der Heilwigstraße 114 in Hamburg realisiert hat.6 Handelte es sich dabei um eine fotografische Installation—1929 umfasste die fotografische Sammlung der 60.000 Bände zählenden Bibliothek 25.000 Fotografien—, so wurden große in Rahmen gespannte schwarze Leinwände von eineinhalb mal zwei Metern angefertigt. Auf diese gerahmten schwarzen Leinwände wurden, von Tafel zu Tafel in verschiedener Anzahl und...

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