In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

Reviewed by:
  • Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900
  • Johanes Birke (bio)
Sabine Mainberger , Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2010. 379 pages.

Sabine Mainberger widmet sich in ihrer umfang- und detailreichen Studie dem Problem der Linie insbesondere in den Jahrzehnten vor und nach 1900 und charakterisiert sie als den Marker jener Umbruchzeit in den Künsten hin zur Moderne, in dem sich unterschiedlichste Diskurse kreuzen und gegenseitig kommentieren. Obschon ubiquitäres Phänomen in Künsten und ihren Wissenschaften, in Literatur, Ästhetik, Philosophie und Anthropologie mangelt es der Linie um die Jahrhundertwende an einer konzisen und repräsentativen Theorie und stellt sich die Frage, wie sie im historischen und diskursiven Feld beschreibbar ist. Mainbergers Untersuchungsgegenstände sind bei diesem Beschreibungsversuch Texte und Bilder, in denen die Linie auf vielfältige Weise zum Zuge kommt. Die Linie kann dabei als „leiblichmotorischer künstlerischer Akt, epistemologische Metapher, Testfall oder visuelles Medium wissenschaftlicher Experimente, Vehikel interdisziplinären Forschens, poetologisches Graphem, kulturkritischer Kampfbegriff, stilgeschichtliches Indiz, Protagonist in einem universalpsychologischen Szenario [End Page 658] u.a.m." (10) beschrieben werden. Die Linie speist sich damit ein in Fragen der Kunstproduktion und -rezeption und kann als eigenständiges und vielfältiges Dispositiv untersucht werden.

Ausgangspunkt von Mainbergers Überlegungen ist die Ausstellung Linie und Form des Krefelder Kaiser Wilhelm-Museums (bzw. deren Katalog) aus dem Jahr 1904, auf die Mainberger im Verlauf ihrer Studie immer wieder zurückkommt und die somit zum Kohärenz stiftenden Bezugspunkt ihrer Studie wird. Die Ausstellung zeigt neben Kunst und Kunstgewerbe auch Naturdinge sowie Industrie- und Militärtechnik. „Sie schafft die imaginäre Ebene, auf der sich Mona Lisa, Bockkäfer, 12-cm Haubitze u.a.m. als ‚Beispiele' der gleichen formalästhetischen Prinzipien treffen." (25) Den pädagogischen Anspruch der Ausstellung sieht Mainberger vor allem in einer „‚Erziehung des Auges'" (ebd.) qua Präsentation von Wissensordnungen und Modellen der Linie. Dafür findet sie Vorläufer und Stichwortgeber im 18. Jahrhundert, in Hogarth, Ruskin, Goethe und Semper (Kapitel 1). Hogarths normativ gesetzte line of beauty/Schönheitslinie und ihre Ordnung der empirischen Mannigfaltigkeit werden dabei als spezifische Möglichkeit der Wahrnehmung verstanden. Der Rezipient ist nicht mehr passiv aufnehmend, sondern vielmehr ein aktiver Betrachter, dessen freies Sehen Formen erzeugt und diese belebt. Ähnlich gelagert sind auch Goethes Überlegungen zur Linienform der Spirale, die das produktive Prinzip jeglicher Formhaftigkeit repräsentiert. Die Spirale wird dabei zum Paradigma der Metamorphose, mithin zu einem Goetheschen ‚Urphänomen'. Ruskin sodann erkennt in seinen abstract lines den für die Jahrhundertwende so entscheidenden Ausdruck von Energie und Bewegung. Der Widerstreit von Kräften manifestiert sich dabei letztlich in der Tätigkeit und Lebendigkeit der curves of life. Die formalistischen Tendenzen um 1900 setzen genau an dieser Dynamik der Linie und ihrer Formen an. Die geschwungene Linie wird dabei nicht mehr ausschließlich als Motiv, sondern als Strukturprinzip und Darstellungsverfahren verstanden. Sowohl Ergebnis als auch Ereignis eines Kräftespiels ist sie somit vor allem eins: Kraftlinie. Als solche wird sie allerdings nicht allein von ihrem Zweck bestimmt, sondern transportiert Gefühl, besser: Stimmung.

Mit ‚Stimmung' ist nun aber einer der notorischen Begriffe der Jahrhundertwende aufgerufen, der in den Einfühlungslehren Vischers und Lipps Prominenz erlangt, für eine Re-Subjektivierung der Kunst einsteht, abstrakten Tendenzen der modernen Kunst Vorschub leistet und die Linie dem Vorwurf des rein dekorativen Ornaments entzieht. Mainberger zeigt in Kapitel 2 sehr eindrucksvoll, wie Stimmung und Einfühlung ein spezifisch ästhetisches Verhältnis zu den (Kunst-)Dingen beschreiben. Dabei stehen vor allem die physiologischen und psychologischen Aktivitäten des Projizierens und Symbolisierens im Fokus der Aufmerksamkeit. Einfühlung wird somit zu einem Produktionsfaktor von Kunstwerken. Vor dem Hintergrund forcierter Wissenschaftlichkeit und einer damit einhergehenden entauratisierten Natur wird das Leihen von Stimmung nicht mehr auf Naturdinge bezogen, sondern auf Kunstformen, vor allem die Linie. Henry van de Velde, einer [End Page 659] der Hauptprotagonisten der Krefelder Ausstellung, öffnet zum Beispiel den Ausdruck von Linien hin zu Gefühlstönen. Unter der Annahme synästhetischer Korrespondenzen wird die Linie als visuelle Sprache verstanden. Lipps stellt in seiner Einfühlungslehre dar, inwiefern eine solche Sprache der Einfühlung der Kontrolle des Subjekts unterliegt. Qua Vermenschlichung und Verlebendigung...

pdf

Share