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  • Das Glück der Selbstverwirklichung in Gottfried Kellers Frauengestalten
  • Hans Hahn (bio)

Dieser Beitrag wird sich auf Glückskonzeptionen der deutschen Spätaufklärung wie auch des literarischen Realismus beschränken, insofern diese für Gottfried Kellers Werk von Bedeutung sind. Das Wort "Glück" gehört zu den zentralen Begriffen in Kellers Werk — in den Seldwyler Novellen wird es in verschiedensten Variationen 84-mal erwähnt (Corkhill 26). Unter den Arbeiten, die sich mit dem Begriff Glück bei Keller beschäftigen, seien vor allem jene von Renate Böschenstein, Alan Corkhill, Jochen Hörisch und Karl Pestalozzi erwähnt, auf die im Folgenden mehrmals verwiesen wird. Um die diversen Formen der Glücksverwirklichung möglichst klar herauszuarbeiten, sollen auch Unglücksgestalten berücksichtigt werden, die ihr Glück entweder verspielt haben oder es erst noch finden müssen.

Kellers Glückskonzeption lässt sich auf Vorstellungen Johann Wolfgang von Goethes, Friedrich Schillers und Ludwig Feuerbachs zurückführen. Immanuel Kant spielt nur insofern eine Rolle, als er selbst wieder Schiller und Feuerbach beeinflusst hat. In Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren (1795/96), die für Kellers Roman Der grüne Heinrich (1854/55 und 1879/80) von großer Bedeutung waren, spielt das Glück eine zentrale Rolle, allerdings beschränkt auf klassizistische Fortunakonzeptionen, wodurch der Protagonist das Glück im wesentlichen als Glückswandel erfährt, ein Geschick, auf das er keinen Einfluss hat. Lediglich die Turmgesellschaft in der Rolle eines deus ex machina (Steiner 151) kann den Glückswechsel redigierend lenken. Die Fortunakonzeption spielt auch im Grünen Heinrich eine Rolle, allerdings nur in Bezug auf den Protagonisten selbst. Goethe scheint bei der Abfassung seines Romans die Kantische Philosophie nicht berücksichtigt zu haben. Dieser nämlich stellt das Erlangen von Glück in einen Kausalzusammenhang mit dem Individuum selbst, derart, dass das Glück dem Sittengesetz unterliegt, weshalb Kant den Begriff "Glückswürdigkeit" gebraucht: "Nur die Würdigkeit, glücklich zu sein, ist das, was der Mensch erringen kann. In dem, was er tut, nicht in dem, was er genießt oder leidet, [...] kann er Zufriedenheit in seine Seele bringen" (643). Dieser Definition nach ist das Glück aber immer noch nicht emanzipiert, sondern noch immer an eine höhere, nicht näher bestimmte sittliche Ordnung gebunden, so dass Kant meist von Glückseligkeit spricht, die dem persönlichen Glück übergeordnet sei. [End Page 268]

Kants Philosophie war bekanntlich für Schiller von größter Bedeutung, der seinerseits wieder stark auf Keller eingewirkt hat. Böschenstein verweist in diesem Zusammenhang auf Schillers philosophisches Gedicht "Das Glück" (1797), in welchem zwar die Kantische Idee der Glückswürdigkeit aufgegriffen wird, das ansonsten aber auf die klassische Fortunakonzeption zurückgreift, welche Glück als ein Geschenk der Götter begreift. Wesentlich relevanter scheint Schillers Glücksauffassung in seinem Drama Wilhelm Tell (1804), auf das Keller mehrmals im Grünen Heinrich und in anderen Erzählungen eingeht. Gerade die Stauffacherin, deren Name von Keller im "Verlorenen Lachen" (1874) auf Justines Mutter übertragen wird, erwähnt den "Glücksstand" ihres Hauswesens und ermahnt ihren Gatten, dieses Glück zu verteidigen, weil es dem freien Mann als sein demokratisches Recht angehöre und damit auch ihr eigenes Glück bedinge. Schiller scheint dabei an das in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung erwähnte Recht auf Glück gedacht zu haben.

Eine radikale Neuinterpretation des Begriffs Glück unternimmt Feuerbach, indem er die bisher oft synonym verwendeten Begriffe Glück (fortuna) und Glückseligkeit (beatitudo) voneinander trennt und Gott als den "in der Phantasie befriedigten Glückseligkeitstrieb des Menschen" (Vorlesungen 288) definiert und ihn aus der Transzendenz in die Diesseitigkeit herüberholt. Die Kantische Glückswürdigkeit wird in den weiteren Rahmen einer Glücksmöglichkeit gestellt, die ganz vom Menschen ausgeht und mittels des Verstandes und im Rahmen einer säkularisierten Sittlichkeit erreichbar ist. In der Theogonie (1857) lesen wir: "Wenn es früher hiess: der Mensch will selbst Gott sein, so heisst dies jetzt nur so viel als: der Mensch will glücklich sein und zwar glücklich im höchsten Grade" (76). Für Keller waren Feuerbachs Vorlesungen über Das Wesen der Religion (1851), die er...

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