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  • Visionen des Glücks:Lyrikerinnen im 19. Jahrhundert
  • Karin Tebben (bio)

Jedem Abstractum, das menschliches Leben in seinen existentiellen Seinsformen beschreibt — Hass, Liebe, Gerechtigkeit, Würde etc. — ist ein historisch diver-gierendes Konkretum zugeordnet, so auch dem Glück. Was als Glück oder Unglück gilt, wird in einem Koordinatensystem von zeitgenössischer kultureller Gemeinschaft und historischer Veränderbarkeit verhandelt. Zwei spezifische Momente des konkretisierten, wie Heidegger sagen würde, In-der-Welt-seins werden sichtbar. Erstens wird die Frage nach der spezifischen Bedeutung von Glück und resp. Unglück einer subjektiven Empfindungswelt überantwortet; was dem einen Menschen Glück bedeutet — Geld, Reichtum, Ruhm -, ist dem anderen möglicherweise entbehrlich. Zweitens existieren gesellschaftliche Übereinkünfte darüber, was nach dem herrschenden Diskurs unter Glück zu verstehen ist. Ein Blick in die Lexika, die "gewissermaßen eine soziale Institution" und als solche "normregistrierend" wie "normstiftend" sind, gibt Auskunft über die Vereinbarungen, was als Glück zu gelten hat (Kapl-Blume 216).

Aufgrund der Vorliebe des Bürgertums für gesellige Plaudereien finden die ersten Konversationslexika, "Nachschlagewerke für die Wissensbedürfnisse des bürgerlichen Alltags," Anfang des 18. Jahrhunderts den Weg in die heimischen Bücherschränke. Damit wird auch das Glück und sein Antonym, das Unglück, Gegenstand enzyklopädischen Wissens. Als kultureller Spiegel der Zeit ist das historische Lexikon deshalb heute von unschätzbarem Wert. Aufschlussreich sind entsprechende Werke deshalb, weil sie die gesellschaftliche Realität des Glückscodes spiegeln, zeigen sie doch die zunehmende Akzeptanz des individuellen Glücksanspruchs im Verlauf des 18. Jahrhunderts und das gleichzeitige Bemühen, das damit aufkeimende subversive Potential ausufernder Subjektivität in Grenzen zu halten.

Zedlers Großes Universal-Lexikon der Wissenschaft und Künste von 1750 belehrt die Zeitgenossen darüber, dass Glück nur im Zusammenhang mit Seligkeit im Munde zu führen ist: als Glückseligkeit. Die mit dem Kompositum Seligkeit anklingende christliche Konnotation bestimmt infolgedessen den Auftakt des Lexikonartikels: "Glückseligkeit ist ein Zustand der würklichen Erlangung oder Theilhaftigkeit des höchsten Gutes in diesem Leben" (Bd. 10, Sp. 1703). Dem Geist der Aufklärung verpflichtet, wird die Definition jedoch unmittelbar darauf säkularisiert, "so auch so gutliche Erlangung durch zeitliche Mittel, als von deren Verbindung wir uns in diesem Leben nicht losmachen können." Letztere [End Page 235] Glückseligkeit zeichnet sich erstens durch ihre Unvollkommenheit aus, zweitens durch das Subiecto, also ihre fehlende Dauer, und drittens durch ihre Zufälligkeit. Entsprechend der beabsichtigten moralischen Erziehung des Menschen mahnt der Lexikoneintrag zur Bescheidenheit; auch bei "überwiegender Menge zeitlichen Unglücks" sollte es dem Menschen möglich sein, wertzuschätzen, dass ihm "auch nur der geringste Antheil derer zufälligen Natur- und Glücksgüter zu Theil würde" (Zedler 10, Sp. 1703). Werde dieses Vernunftprinzip nicht anerkannt, so drohe Ungemach: "Sagen wir aber, die Glückseligkeit sey lauter Annehmlichkeit ohne Verdrüßlichkeit [...], so scheinet in diesem Leben keine wahre Glückseligkeit zu hoffen zu seyn, indem nicht allein das Gute in diesem Leben alle Zeit mit Verdrüßlichkeit vermenget, sondern auch die Begierden uns so lange beschwerlich fallen, bis sie das, was sie gewünschet, erhalten haben" (Zedler 10, Sp. 1704).

Festzuhalten ist: Der Glückseligkeit geht ein Glücksverlangen voraus. In dem Maße, in dem das Gut erworben ist, das dieses Glücksverlangen stillt, stellt sich Glückseligkeit ein. Herrscht Verzicht oder Mangel, so ereilt den Menschen Unglückseligkeit. Allein die Vernunft kann — mit Freud gesprochen — die Balance halten zwischen Lustprinzip (dem unmäßigen Glücksverlangen) und Realitätsprinzip (der prinzipiellen Beschränkung) und damit ein bescheideneres, gleichwohl schätzenswertes Gut erlangen: Zufriedenheit. Dem Bürger des 18. und 19. Jahrhunderts mag diese avisierte Bescheidenheit in Bezug auf Reichtum, Ruhm und Anerkennung eingeleuchtet haben, nicht aber im Hinblick auf das Liebesideal, das allen realen Gepflogenheiten zum Trotz seit Ende des 18. Jahrhunderts maßgeblich für die exklusive Beziehung von Mann und Frau wird (Gay passim).

Die unter bürgerlichem Leistungsethos firmierende freiwillige Beschränkung ist — ganz gleich, wie sich der individuelle Glücksanspruch in den folgenden Jahrzehnten entwickeln wird — nicht Sache der Dichtung. Im Gegenteil, die Emanzipation des Herzens, die spätestens mit der Empfindsamkeit einsetzt und die...

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