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  • Walsers Trilogie der Leidenschaft: Eine Analyse seines Goethe-Romans Ein liebender Mann im Kontext der Tradition der Ulrike-Romane
  • Jens Kruse

Anfang des Jahres 2008 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Martin Walsers Goethe-Roman Ein liebender Mann im Vorabdruck. Wie nicht anders zu erwarten bei einem Text, in dem einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart einen Lebensabschnitt des größten deutschen Dichters fiktionalisiert, war das Presse-Echo auf den Vorabdruck und die im März folgende Buchpublikation groß.1 Die überwiegende Mehrzahl der Rezensionen war außerordentlich positiv, wenn es auch an den gelegentlichen Verrissen nicht fehlte.2

In der Zeit vom 21. 2. 2008 schreibt Ulrich Greiner in der ersten größeren Rezension des Romans: “Über diese Affäre [die Goethes mit Ulrike von Levetzow, J. K.] hat Walser jetzt einen seiner schönsten Romane geschrieben” (53). Am 28. 2. 2008 schreibt Thomas Groß im Rheinischen Merkur: “Dieser Altersroman ist auch sprachlich die reifste Leistung des 80 Jahre alten Autors” (21). Joachim Kaiser intensiviert dieses Lob noch, wenn er am 29. 2. 2008 in der Süddeutschen Zeitung schreibt: “Was bei Martin Walser sogleich entzückt, ist die Anmut seiner Schilderung. Man lässt sich bezaubert ein auf Liebes-Passion, Dichter-Gescheitheit, lebendigstes Zeitkolorit. Da übertrifft Walser, sprachmächtig, nicht nur sich selbst, sondern auch so manche berühmte Goetheschilderung der deutschen Literatur” (11).

Selbst einige der vielen positiven Rezensionen jedoch äußern oft leise oder laute Kritik am dritten Teil des Romans. Dafür ist Joachim Kaisers Rezension ein gutes Beispiel. Er schreibt:

Im dritten, abschließenden Teil drängt sich gleichsam ein grimmiger Walserscher Goethe-Essay in den während der ersten beiden Teile so authentisch geglückten Verlauf . . . Deshalb wirken die Goethe-Briefe an Ulrike, die Walser für den dritten Teil seines Romans imaginierte, seltsam Goethefern.

(11)

Diese auch von anderen sonst positiv reagierenden Rezensenten variierte Kritik scheint mir auf einem Missverständnis zu beruhen. Die Rezensenten sehen Walsers Roman fast ausschließlich als eine Goethe-Fiktion, als einen Text also, in dem es Walser um den Menschen und die Figur Goethe zu tun ist, ob nun als historische oder mythische Figur oder als Folie, Spiegel, [End Page 259] Prisma. Im Rahmen dieses Verständnisses ist die Kritik, der dritte Teil sei von Walser beherrscht, sei Goethefern, durchaus verständlich. Dabei übersehen die Rezensenten freilich, dass es sich bei Walsers Roman nicht nur um eine Goethe-Fiktion im Sinne von Thomas Manns Lotte in Weimar handelt (ein Vergleich der oft benutzt wird),3 sondern auch um eine produktive Werkrezeption und -transformation. In diesem Genre der Werkbearbeitung jedoch ist das Ziel des Autors nicht unbedingt die möglichst einfühlsame und eventuell sogar historisch korrekte Wiedergabe des Menschen Goethe, sondern die produktive Aktualisierung und Umfunktionierung des Werks zu eigenen Zwecken.4 Mit anderen Worten: Walser legt uns mit Ein liebender Mann nicht nur eine Goethe-Fiktion, sondern auch eine produktive Werkbearbeitung vor, ganz zu schweigen davon, dass Walser uns natürlich auch einen Walser-Roman präsentiert.5 Mehr noch: der wiederholte Hinweis in den Rezensionen auf Thomas Manns Lotte in Weimar stellt Ein liebender Mann in die falsche Traditionslinie, denn Walsers Roman ist natürlich kein Lotte-Roman sondern ein Ulrike-Roman.

Nur wenn wir Ein liebender Mann unter allen genannten Aspekten analysieren und auswerten und ihn in die Traditionslinie der Ulrike-Romane stellen, können wir diesem Text Walsers über die ersten Reaktionen des Feuilletons hinaus gerecht werden. Genau dies hoffe ich im Folgenden zu tun, indem ich Ein liebender Mann als (a) Goethe-Fiktion, als (b) Werkbearbeitung und -transformation, und als (c) Walser-Roman behandle. Bevor wir jedoch diese drei Aspekte im Einzelnen besprechen, wird es nützlich sein, einen Überblick über Walsers Roman und dessen Struktur zu bekommen und ihn in die Traditionslinie der Ulrike-Romane einzuordnen. Der Überblick über den Roman und dessen Struktur wird uns besonders die Behandlung von (b) erleichtern; die Einordnung in die Traditionslinie der Ulrike-Romane wird besonders die Diskussion von (a) fördern; beide Überblicke werden für die literaturkritische, literaturhistorische und rezeptionsgeschichtliche Einordnung des Goethe- und Walser-Romans (c) hilfreich sein.

Überblick über Ein liebender Mann

Der erste und der dritte Teil des Romans...

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