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MLN 118.3 (2003) 538-556



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Inquisition und Feldforschung:
Zur These Michel Foucaults über die Genese der empirischen Wissenschaften im 16. Jahrhundert

Bernhard Siegert

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Am Ende des Kapitels über den Panoptismus in Überwachen und Strafen widmet Foucault einige Absätze einer These, die ihn in ein ganz anderes Jahrhundert und zu einer ganz anderen Art des Wissens als dem der Disziplinargesellschaft führt. Den Hintergrund für diesen Exkurs stellt die Bemühung dar, zu erklären, in welchem Sinne das Panopticon als "Technologie" bezeichnet werden kann. Der Panoptismus ist keine "konkrete" Technologie in dem Sinne, wie es etwa die Dampfmaschine oder das Mikroskop ist; er ist, schreibt Foucault, eine "abstrakte Formel" einer "sehr wirklichen Technologie: der Technologie der Individuen." 1 Gilles Deleuze hat dies zum Anlaß genommen, von "abstrakten Maschinen" (die er mit einem anderen Begriff Foucaults auch "Diagramme" nennt) und "konkreten Maschinen" bei Foucault zu sprechen. 2 Die konkreten Maschinen sind die von der Disjunktion zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren geprägten Einrichtungen; sie werden indes erst vom Diagramm bzw. der abstrakten Maschine "ausgewählt." So setzt das [End Page 538] Gewehr als materielle Technologie das Diagramm einer "Geometrie teilbarer oder zusammensetzbarer Abschnitte" 3 voraus. "Wirkliche Technologien" sind eher sozialer als technischer Natur, da technische Maschinen erst "wirklich" und wirksam werden, sobald ein neues Diagramm oder Dispositiv sie die Schwelle der "Technologie" überschreiten läßt. 4 Bemerkenswert an Deleuze' Analyse erscheint aus medientheoretischer Sicht vor allem das Konzept eines an Heidegger erinnernden Zusammenspiels von "Ansichhalten" und "Verkörperung" im Verhältnis von konkreter und abstrakter Maschine. Die abstrakte Maschine besetzt den Ort bzw. "Nicht-Ort" der Disjunktion zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren, um sich in diesen beiden auseinanderstrebenden Formen zu verkörpern. 5 Die abstrakte Maschine gehört weder dem Sichtbaren noch dem Sagbaren an, weil sie jener bewirkende "Unter-Schied" zwischen beiden ist, der beide als differenzierte Inhalts- und Ausdrucksform allererst hervorbringt und dabei selbst an sich hält. 6 Die abstrakte Maschine ist durch die gleiche Differenz charakterisiert, die das Medium setzt und die es zum Medium macht: daß man nämlich im Anblick des Mediums nichts Sichtbares, an den sichtbaren Dingen aber nicht das Medium erblickt.

Statt also die Disziplinarprozeduren der Dampfmaschine gegenüberzustellen, ließe sich, so Foucault, ein Vergleichspunkt viel eher in der Technik der "Inquisition" finden. Damit beginnt Foucaults kurzer Exkurs zur Frühen Neuzeit, der nichtsdestoweniger in eine Generalthese zur Genese der empirischen Wissenschaften einmündet. Im Unterschied zu den marxistischen oder bürgerlichen Mythen von der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften führt Foucault die Entstehung der empirischen Wissenschaften auf die "abstrakte Formel" der inquisitio (enquête) zurück. 7 Was im 18. Jahrhundert die Disziplinaranalyse für die Wissenschaften vom Menschen bedeutet habe, das [End Page 539] habe "am Ende des Mittelalters" die "politisch-juridische Untersuchung, die Verwaltungs- und Kriminalerhebung, die religiöse und die weltliche Ermittlung" für die Wissenschaften von der Natur bedeutet. 8

Tatsächlich war die Gerichtsuntersuchung der erste aber grundlegende Ansatz zur Konstituierung der empirischen Wissenschaften; sie war die juristisch-politische Matrix des experimentellen Wissens, das am Ende des Mittelalters plötzlich entriegelt worden ist. Die Mathematik mag in Griechenland aus den Techniken des Messens entstanden sein; die Wissenschaften von der Natur sind jedenfalls zum Teil am Ende des Mittelalters aus den Techniken der Gerichtsuntersuchung hervorgegangen. Das große empirische Erkennen, das die Dinge der Welt überzogen hat und in die Ordnung eines unbegrenzten, die "Tatsachen" feststellenden, beschreibenden und sichernden Diskurses transkribiert hat (und das in dem Augenblick, in dem die abendländische Welt mit der ökonomischen und politischen Eroberung eben dieser Welt begann), dieses empirische Erkennen hat zweifellos sein Operationsmodell in der Inquisition—jener unermeßlichen Erfindung, die unsere moderne Verzärtelung in einer schattigen Ecke unseres Gedächtnisses abgestellt hat. 9

Foucault hat an anderer Stelle die enquête als "Matrix" bezeichnet, in die sich die großen Entdeckungsreisen am Beginn der Neuzeit und in ihrem Gefolge die neuzeitlichen Naturwissenschaften eingezeichnet hätten. 10 Die inquisitio war ursprünglich ein Ausnahme-Verfahren zur Klärung...

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