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Eine Souveräne Posaune Gottes Gedanken zu Hildegard von Bingen und ihrem Werk BARBARA FRISCHMUTH Ich frage mich noch immer, wie es zugehen mag, dass einen plötzlich eine Stimme aus der Entfernung von Jahrhunderten anredet, als meine sie einen persönlich, von der man nie gedacht hat, dass sie einem etwas zu sagen habe, erst recht wenn der Mensch, aus dem sie gesprochen hat, eine Nonne und adeliger Herkunft war. Ich kann mich nur dunkel an die erste Begegnung mit Hildegard von Bingen, der "prophetissa teutónica", das heisst an den Kauf ihrer Werke, erinnern. Es muss irgendwann Anfang der siebziger Jahre gewesen sein, als ich an dem Roman Das Verschwinden des Schattens in der Sonne arbeitete. Schon während meines OrientalistikStudiums hatte ich mich mit nahöstlicher Mystik befasst, und als ich an dem Roman zu schreiben begann, nahm ich jene Studien wieder auf. Damals habe ich auch die Werke der Hildegard von Bingen sowie ein paar dürftige Broschüren mit von klerikaler Seite überarbeiteten Texten der Theresa von Avila (viel später erst "Die innere Burg") und was von Meister Eckehart, Jakob Böhme, Seuse und Tauler und Katharina von Siena zu haben war, erworben. Ich blätterte mehrmals im Hauptwerk der Hildegard von Bingen, dem Scivias (Wisse die Wege), freute mich an den prächtig colorierten, merkwürdigen Bildern des Rupertsberger Kodex, las aber kaum darin und war so gar nicht empfänglich für alles, was auch nur leise nach christlichem Abendland klang. Warum ich dann mehr als zehn Jahre später in Hildegards Büchern zu lesen begann, kann ich nicht sagen. Gewiss nicht vorsätzlich. Möglicherweise habe ich zufällig nach einem ihrer Bücher gegriffen, während ich ein anderes suchte. Vielleicht habe ich auch gedacht, es könne entfernt mit meinem Roman Die Verkörperung , an dem ich gerade schrieb und noch immer schreibe, zu tun haben, obgleich ich gestehe, dass mir heute noch immer nicht klar ist, inwieweit es wirklich 11 mit diesem Roman zu tun haben könnte. Es war auch nicht so, dass ich mit spontanem, atemlosem Interesse von der Lektüre gebannt gewesen wäre, sondern es war eher ein hartnäckiges mich mehr und mehr Einlassen auf die Sprödheit dieser Texte. Ich brauchte Tage und Wochen bis so etwas wie Verständigung möglich war zwischen mir und dieser Stimme, die ich nur mühsam für mich zum Klingen bringen konnte. Aber so wie die Zunge oft nur widerstrebend das Herbe eines Geschmacks ertastet und geniessen lernt, erging es mir mit der leidenschaftlichen Strenge in den Visionen dieser Frau, die erst in ihrem dreiundvierzigsten Jahr den Auftrag vernahm: "Schreibe, was du siehst und hörst!" Und danach erst, in ihren Liedern und Briefen, lernte ich auch ihre Milde kennen. Bevor ich nun weiter auf Hildegard von Bingen und die Faszination, die sie auf mich ausübt, eingehe, möchte ich noch festhalten, dass ich selbst keinerlei greifbare oder berichtenswerte Erfahrung mit mystischen Erlebnissen habe. Es ist mir auch nicht darum zu tun, nach dem Studium orientalischer Mystik nun den abendländischen Weg zu gehen und mir bei den Mystikerinnen Anleitung für ein persönliches religiöses Leben zu holen. Was mich interessiert, als Autorin interessiert, sind die sprachlichen Bilder, in denen die Schau des Göttlichen fixiert wird, und darin diese ungeheure Sehnsucht des Menschen nach persönlicher Bedeutsamkeit für Gott, für den Kosmos. Da ist wenig von erotisch gefärbter, persönlicher Vereinigung der Seele mit ihrem göttlichen Bräutigam die Rede, dafür um so mehr von der Wertigkeit des Menschen im Kosmos überhaupt. Nicht "der Zigeuner im Weltall", als den Jaques Monod, der Biologe und Nobelpreisträger für Medizin, ihn sieht, sondern der Mensch als das Entzücken seines Schöpfers. Andererseits vermag dieses "Entzücken seines Schöpfers" durch seine Sündhaftigkeit sogar den Kosmos zu erschüttern: Die Elemente brechen zu ihrem Schöpfer in Wehgeschrei aus, weil sie die ihnen von Gott bestimmten Wege nicht zu Ende gehen und die ihnen auferlegten Dienste nicht vollenden können, denn sie werden herumgewälzt durch die Sünden der Menschen. (Durch den heutigen...

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