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HANS RUDOLF VAGET Der Schreibakt und der Liebesakt. Zur Deutung von Goethes Gedicht "Das Tagebuch" 1. Priapeischer Scherz oder moralische Botschaft? Es IST EIN EINMALIGER Vorgang in Goethes gesamtem Schaffen, daß er ein so groß angelegtes und bedeutendes Gedicht wie "Das Tagebuch" (1810) zwar in kleinem Kreis wiederholt vorgelesen aber von einer Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten ausgeschlossen hat. Die Entscheidung gegen eine Veröffentlichung ist jedoch leicht begreiflich angesichts der beispiellosen Explizitheit und Schamlosigkeit , mit der er hier das Sexualleben eines Mannes zum Gegenstand eines ebenso heiteren wie tiefsinnig symbolischen Gedichts erhoben hat. Dazu hat er selbst Eckermann gegenüber die folgende Erklärung gegeben: "Könnten Geist und höhere Bildung [...] ein Gemeingut werden, so hätte der Dichter ein gutes Spiel; er könnte immer durchaus wahr sein und brauchte sich nicht zu scheuen, das Beste zu sagen."1 Goethe wußte demnach, daß gerade ein Gedicht wie dieses, das nach Wahrhaftigkeit strebt und "das Beste" mitzuteilen sucht, auf eine Zeit zu warten hatte, die günstigere Rezeptionsvoraussetzungen bot—günstiger nicht nur im Sinne einer größeren Unbefangenheit gegenüber der Sexualität, sondern auch einer weiteren Verbreitung von "Geist und höhere[r] Bildung." Denn die Zeit, so fährt Goethe fort, ist "ein wunderlich Ding. Sie ist ein Tyrann, der seine Launen hat, und der zu dem, was einer sagt und rut ein ander Gesicht macht. Was den alten Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen, und was Shakespeares kräftigen Mitmenschen durchaus anmutete , kann der Engländer von 1820 nicht mehr ertragen, so daß in der neuesten Zeit ein Family Shakespeare ein gefühltes Bedürfnis wird." Hans Rudolf Vaget 113 Die Zeit hat von diesem Gedicht, das zuerst 1861 veröffentlicht wurde, in der Tat lange das Gesicht abgewandt. In den Goethe-Ausgaben des 19. Jahrhunderts, dessen Goethe-Bild nicht gar so weit von der Idee eines "Family Goethe" entfernt war, fehlt das Gedicht. Es fehlt auch noch in den meisten Ausgaben in diesem Jahrhundert, einschließlich der einflußreichen Hamburger Ausgabe, obgleich das Gedicht durch den Abdruck in der historisch-kritischen Weimarer Ausgabe offiziell in den Kanon der Goetheschen Werke aufgenommen worden war. Aber selbst dieses editorische Verdienst ist nicht völlig ungetrübt. Auch die monumentale Weimarer Ausgabe, die jedenfalls im Hinblick auf die Goetheschen Texte "durchaus wahr" sein wollte, hat das Gedicht nur zögernd und widerstrebend autorisiert. Die maßgeblichen Philologen der Weimarer Ausgabe, Wilhelm Scherer und Erich Schmidt, waren zunächst entschlossen, "Das Tagebuch" nicht in die Ausgabe aufzunehmen und damit seine philologische und interpretatorische Erschließung zu boykottieren. Beide waren sich darin einig, daß das Gedicht "gewiß nicht" in der Weimarer Ausgabe erscheinen solle, denn, so Schmidt, "nicht alle priapeischen Scherze Goethes" dürften "dem großen Publicum" aufgetischt werden.2 Im Rückblick muß man sich über die Einstellung der beiden großen Editoren wundern, über ihre auffallende Bereitschaft, ihre' philologischen Prinzipien zu kompromittieren ebenso wie über ihre Verkennung des Gedichts als eines priapeischen Scherzes. So erschien "Das Tagebuch" erst 1910 in einem Band mit Nachträgen aus dem Nachlaß, allerdings mit einem philologisch unbefriedigenden Text; erst 1914, in einem weiteren Nachtragsband zu den Lesarten der Gedichte, also an sehr versteckter Stelle, wurden die Lesarten nach den inzwischen zugänglich gewordenen Handschriften mitgeteilt.3 Aber selbst diese Edition befriedigt und überzeugt nicht in allen Einzelheiten der gerade im Falle dieses Gedichts äußerst problematischen Textgestaltung.4 Noch merkwürdiger jedoch mutet das Verhalten der Goethe-Forscher und -Interpreten an. Sie sind an diesem Werk—immerhin ein 24-strophiges Stanzengedicht von einer in der deutschen Literatur einzigartigen Kühnheit in der poetischen Behandlung eines sexuellen Abenteuers—offenbar abgewandten Gesichts vorbeigegangen. Für die 120 Jahre seit dem ersten Bekanntwerden des Gedichts sind nicht mehr als zwei ernstzunehmende Arbeiten nachzuweisen, die sich um eine Erhellung und Deutung des "Tagebuchs" bemühen. Johannes Niejahr legte bereits 1895 eine scharfsinnige Untersuchung zu den literarischen Quellen des Gedichts vor, ohne daß diesem vielversprechenden Anfang eine sachliche, weiterführende Diskussion gefolgt wäre.5 Erst nach über 80 Jahren beredten Schweigens vonseiten der Goethe-Forschung hat die Diskussion und interpretatorische Bemühung um dieses Gedicht wieder...

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