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ERDMANN WANIEK Werther lesen und Werther als Leser i. EINE VORREDE GEHÖRT zu den Konventionen des im achtzehnten Jahrhundert entstehenden Briefromans. In dieser Vorrede kann einmal einem gerade für den Roman verpflichtenden Wirklichkeitsgebot Genüge getan werden. Die mehr oder minder abenteuerliche Herkunft der schließlich privaten Zeugnisse wird also erläutert und ihre Glaubwürdigkeit versichert, die im tatsächlichen Ereignis gründet. Diesem Anliegen steht eine andere Geste der Vorrede entgegen, insofern diese den Kunstcharakter der folgenden Geschichte anerkennt. Der Verfasser kann die willkommene Gelegenheit nützen, sein mit der Briefform eigentlich aufgegebenes Recht des Erzählereingriffes in der Vorrede im voraus auszuüben und des Lesers Erwartungen und Reaktionen zu lenken.1 Ähnliches leistet auch die Vorrede zu Die Leiden des jungen Werthers, deren mögliche Funktion als Herausgeberbericht bezeichnend überschattet wird von ihrem entscheidenderen Aspekt als einstimmendes Motto, unter dem das Buch zu lesen sei. Im vielbeklagten "tintenklecksenden Säkulum" fallen diese drei Sätze durch ihre konzentrierte Knappheit und eine beschwörende, auch heute noch nicht verblaßte Intensität auf: Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammlet, und leg es euch hier vor, und weis, daß ihr mir's danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksaale eure Thränen nicht versagen. Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.2 52 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA Mit der Herausgeberfiktion ist der konventionelle Wirklichkeitsanspruch beibehalten. Er wird aber nicht weitläufig untermauert, sondern mit der Erwähnung der Sammeltätigkeit nur flüchtig angesprochen. Der Herausgeber übergeht die äußeren Umstände seiner Tätigkeit, sie sind für die Wirkungskraft dieser Geschichte ohne Belang. Statt rückblickend über deren Herkunft Rechenschaft abzulegen, schlagen die zwei Abschnitte sofort und ausdrücklich die Brücke vorwärts zum Leser. Ist man versucht, Goethes Roman auf Grund seines Titels zwischen pietistischer (Auto-) Biographie und empfindsamem Roman anzusiedeln , wo schon der Eigenname im Titel einen spezifischen Wirklichkeitsanspruch signalisieren soll, so schwächt die Vorrede die damit verknüpften, ersten Erwartungen ab. Sie bemüht sich keineswegs, den Wirklichkeitsgehalt des Geschehens zu betonen, obgleich oder vielmehr gerade weil paradoxerweise genau dieser Roman in wesentlich neuer Weise spezifisch eigenes Erleben formt und dabei "Wirklichkeit in Poesie" verwandelt (Dichtung und Wahrheit, 13. Buch, HA 9, 588).' Die Vorrede appelliert an das Gefühl und mitempfindende Verständnis der Leser, die in ihrer ihnen hier vorausgesagten Reaktion den unwiderstehlichen Wahrheitsgehalt von Werthers Schicksal und Charakter beglaubigt finden werden. Die so in der Vorrede zutage tretende Verlagerung des Erzählinteresses von äußerer Handlung zu psychologischer Wahrheit wird vom Roman selbst mit seiner bahnbrechenden Betonung der inneren Geschichte eines Einzelnen wahrgemacht. Damit erfüllt dieser Roman das im gleichen Jahre 1774 von Blanckenburg entworfene Programm: Werther zeigt uns einen "möglichen Menschen der wirklichen Welt," er konfrontiert uns mit der psychologisch verstandenen "Wahrheit im Menschen"4 (meine Hervorhebung), angesichts deren Überzeugungskraft die Frage nach dem Vorbild in der Wirklichkeit eigentlich versrummen sollte. Goethes Briefe an die Kestners zur Entstehungszeit des Romans sowie seine Reaktion auf dessen Aufnahme künden von dieser Erwartung.5 Der Reiz der Abweichung vom herkömmlichen, handlungsorientierten Erzählen erhöht sich noch, da Goethe mit der Briefform, wie er sie verwendet, das traditionelle, pikareske Prinzip der äußeren Handlungsreihung eigentlich beibehält, es aber eben auf das innere Geschehen transponiert. Erst in der Leistung des Lesers runden sich die Mosaiksteine der Briefe zum Bild der widersprüchlichen Person Werthers. Von größter Wichtigkeit sind daher neben den jeweils verschiedenen Vorurteilen und Überzeugungen des individuellen Lesers die Winke, mit denen der Leser zu Beginn des Romans bewegt wird, einen bestimmten Gesichtspunkt einzunehmen. Unser Bild von Werther entscheidet sich in seinen ersten Briefen, und in der Vorrede werden die Weichen gestellt. Der Herausgeber, der uns die Zeugnisse von Werthers Geschichte vorlegt, "weis, daß ihr mir's danken werdet." Weder der Kirche noch einem gnädigen F...

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