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REGINE OTTO Briefe des Urfreundes Karl Ludwig von Knebel (1744-1834), von Goethe mit dem Ehrennamen "Urfreund" ausgestattet, ist als Zeuge des Lebens in Weimar und Jena für den Zeitraum zwischen Goethes Ankunft und Tod ausgiebig befragt worden—von Germanisten am häufigsten, von Historikern und Soziologen gelegentlich. Das Interesse für Knebels eigene Person und Lebensgeschichte wie für sein schriftstellerisches Werk wurde durch den Ehrennamen eher verdrängt, zumal der Verfasser zahlreicher Gedichte und philosophischer Aufsätze, der Übersetzer des Lehrgedichtes von Lukrez und der Elegien von Properz als Goethes "Urfreund" in der Tat aussagefähig und ernst zu nehmen war und bleibt. Insbesondere sein fast sechs Jahrzehnte umspannender Briefwechsel mit dem Dichter (bis heute nur fragmentarisch und fehlerhaft gedruckt) dokumentiert, daß es sich hier nicht bloß um einen "Anbeter" gehandelt hat (das auch), sondern in vielen Fällen um einen vertrauten Mitwisser und kritischen Berater in Lebens- und Schaffensfragen. Dies trifft zwar in gewissem Maße u.a. auch auf das Verhältnis zwischen Knebel und Herder zu, doch blieben in diesem und manchem vergleichbaren Fall aus unterschiedlichen Gründen Distanz und Reserve stärker im Spiel. Auch solche und andere Charakteristika und Differenzen sind hauptsächlich aus Knebels Briefen ablesbar. Briefe sind, neben den über Jahrzehnte hin kalendarisch geführten und fast lückenlos überlieferten Tagebüchern, die wichtigsten Quellen zur Einsicht in alle diese "Verhältnisse" und zugleich ein Hauptbestandteil des schriftstellerischen Werkes, das Knebel hinterlassen hat. Korrespondenz—im Wortsinne—war ein Lebensnerv des problematischen Mannes. Exzeptionelle Anlage zu Freundschaft und Kritik, Goethe Yearbook 111 Austausch und Vermittlung—ein nie ermüdendes neugieriges und teilnehmendes Interesse an Menschen und Ereignissen, Literatur und Geschichte, realen Zuständen und wünschbaren Aussichten—nicht zuletzt eine bis zur Rücksichtslosigkeit leidenschaftliche Neigung, Empfindungen und Urteile möglichst zugespitzt "zur Sprache zu bringen ": in Knebels Briefen sind diese Grundzüge seines Charakters geradezu exemplarisch ausgeprägt—einschließlich der Problematik, die eine so intensive Begabung zum Anempfinden, verbunden mit frühzeitiger Erkenntnis der Grenzen des eigenen Leistungsvermögens und historisch-sozial bedingter Einengung der "Möglichkeit zur Existenz" (Knebel an Herder, 16. Oktober 1789) mit sich bringen mußte. Knebels Briefwerk begleitete die nahezu sieben Jahrzehnte vom Ende des Siebenjährigen Krieges bis zur Julirevolution—einen von weltgeschichtlichem Umbruch geprägten Zeitraum, der den Hintergrund und den Rahmen, die Möglichkeiten und die Bedingungen eines äußerlich wenig dramatischen Lebens bestimmte. Nur ein Bruchteil dieser Briefe liegt in Drucken vor, die modernen Ansprüchen an die Edition historischer Texte entsprechen. Mindestens tausend Briefe sind ungedruckt. Für beträchtliche Teile sind die Handschriften, auf denen die älteren Drucke beruhten, verschollen. Wieviel insgesamt verloren ist, läßt sich nur vermuten. Bei vorsichtiger Schätzung kann man annehmen, daß 2500-3000 Briefe Knebels erhalten geblieben sind—davon etwa 350 an Johann Gottfried und Caroline Herder, etwa 350 an Charlotte von Schiller, etwa 300 an Goethe, etwa 300 an Knebels Schwester Henriettte, etwa 200 an andere Verwandte, etwa 170 an den Kanzler von Müller, etwa 80 an Carl August und andere Mitglieder des Weimarer Fürstenhauses sowie jeweils bis zu 15 an rund 50 weitere Adressaten von Altenstein bis Wieland. Als charakteristische Beispiele aus der trotz aller Verluste noch reichen Überlieferung werden hier drei ungedruckte Briefe mitgeteilt, die auch in die in Vorbereitung befindliche mehrbändige Studienausgabe der Schriften Knebels aufgenommen und dort detailliert kommentiert werden sollen. Zwei Manuskripte befinden sich im Goethe- und Schiller-Archiv (Signaturen: 122, 132; 54, VIII, 1), die Handschrift des Briefes an Carl August im Großherzoglich-Sächsischen Hausarchiv (Signatur: A XIX, 65) in Weimar. Die beiden Zeugnisse von 1781 und 1784 geben Einblick in Knebels Verständnis der Aufgaben eines Prinzenerziehers. Sie lassen sowohl seine Grundsätze als auch Ursachen seines Scheiterns in praxi erkennen. Im Juli 1774 nach Beendigung einer wenig erfolgreichen Laufbahn im friderizianischen Heer als einer unter mehreren Instruktoren des jüngeren Prinzen, Friedrich Ferdinand Constantin, nach Wei- 172 Regine Otto mar berufen, war Knebel schon 1780 aus diesem Dienst in den Ruhestand versetzt worden, im Alter von 36 Jahren. Vorangegangen waren durch Dritte veranlaßte Intrigen und Unstimmigkeiten, entscheidend mitgespielt hatten sowohl der schwierige Charakter des Prinzen als auch...

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