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WOLFGANG WITTKOWSKI Goethe, Schopenhauer und Fausts Schlußvision Goethes Lebenswerk, sein Faust, gipfelt in der Zukunftsvision des sterbenden Helden. Man verehrte diese Worte als Goethes Vermächtnis an die Deutschen, ja, an die Menschheit. Und umgekehrt verabscheute man sie auch als den Inbegriff des 'Faustischen,' das unsere technische Zivilisation an den Rand der Selbstvernichtung führte. Oder man las sie drittens als Goethes prophetische Warnung vor jener 'faustischen' Ära moderner Ausbeutung von Natur und Mensch. Wieso aber kommt der Teufelsbündner dann in den Himmel? Fügt Goethe damit nicht zum offenbaren theologischen Ärgernis noch das moralische und das politische hinzu? Denn wird von einer derartigen 'Rechtfertigung' nicht Fausts vorherige Verurteilung willkürlich wieder aufgehoben oder leichtfertig bagatellisiert? Hierum geht es im folgenden. Den Kern der Argumentation bildet eine Phänomenologie der Schlußvision, die es erstaunlicherweise bisher nur in dürftigen Ansätzen gibt. Einbezogen wird der Kontext: die 'Erlösung' und die Szenen, die zur Vision hinführen; andere Szenen des Werkes, zumal die Anfangsszenen des IV. Aktes, den Goethe zuletzt schrieb.1 Weitere Korrektive bilden neben Aussagen des Dichters einige Parallelen bei Schopenhauer, die man bisher m.W. nicht beachtete. Die Welt als Wille und Vorstellung (I. Teil Dezember 1818) entstand vor, neben und nach den Gesprächen des Winters 1813/14 — also, schreibt Arthur Hübscher, "unmittelbar im Umgang [mit] und in der Sicht auf Goethe.2 Dieser benötigte für die Lektüre statt eines Jahres, wie er zunächst annahm, bloß Januar/Februar 1819- Las er doch "mit einem Eifer, wie [Ottilie] noch nie an ihm gesehen"3: vielfach nämlich fand er, was er selbst einmal gedacht und gesagt, ja "was er vielleicht einmal gefühlt, aber nicht ins Bewußtsein gebracht" hatte, und gelangte so "zu einem deutlicheren Verständnis seiner selbst" (Hübscher 80, 78). Das letzte Gespräch der beiden im selben Jahr geriet denn auch zu "wechselseitiger Belehrung."4 Sie kam offenbar dem Faust zustatten, dem Gegenstand der folgenden Beobachtungen, aber keineswegs nur ihm. Erst durch die Begegnung mit 234 Wolfgang Wittkowski Schopenhauers Hauptwerk gewannen vielleicht einige zentrale Goethesche Begriffe ihre eigentümliche Bedeutungsnuance — "Antizipation" und "Vorgefühl" etwa in "Phänomen" (West-östlicher Divan, "Buch des Sängers") und natürlich in Fausts letztem Satz; "Entsagung" in Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden; alle drei, wird sich zeigen, in Fausts Auseinandersetzung mit der Sorge und ihren Schwestern, Masken: einer Szenengruppe, die sich in manchen Zügen überraschend eng einer Darstellung des Philosophen anschließt. Dieser wiederum verdankte seinerseits dem Dichter entscheidende Anregung zu eben jenen Vorstellungen, zu vielen anderen und womöglich zu seiner Hauptidee vom Lebenswillen. Immer wieder nennt und zitiert er Goethe, den er schon als Junge in Weimar kennenlernte. Umgekehrt enthalten die späteren Auflagen des Hauptwerks freilich eine Fußnote, in der er auf der Priorität seines Vergleichs von Leben und Tod mit Sonne und Nacht (§54) besteht: In Eckermanns "Gesprächen mit Goethe" [...] sagt Goethe: "Unser Geist ist ein Wesen ganz unzerstörbarer Natur: es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufh örlich fortleuchtet." — Goethe hat das Gleichnis von mir; nicht etwa ich von ihm. Ohne Zweifel gebraucht er es, in diesem 1824 gehaltenen Gespräch in Folge einer, vielleicht unbewußten Reminiszenz obiger Stelle. Das stimmt zu der Sicht Hübschere (der die Fußnote nicht erwähnt). Schopenhauer erstattet also Manches, was er bei Goethe fand und weiterf ührte, auf neuer Ebene wieder; und Goethe empfängt von ihm eigene Gedanken in neuer Form zurück. Das hier dargelegte .FaMsi-Verständnis gewinnt in diesem Zusammenhang vielleicht mehr Profil. Und umgekehrt vermochte ich die speziellen Gemeinsamkeiten und wie sie sich ergeben haben mögen, in diesem Zusammenhang besser zu veranschaulichen als in einem gesonderten Vergleich. Dennoch verdient Vieles eine eigene Weiterentwicklung und Präzisierung . Erst recht gilt das für die allgemeineren Gemeinsamkeiten, die ich nur streife: etwa, daß Schopenhauer sich mit Goethe einig wußte, wenn er den Ansatz seines Philosophierens als "Phänomenologie" bezeichnete und schrieb: "alle letzte, d.h. ursprüngliche Evidenz ist eine anschauliche" (§14). Seine...

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