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BERND FISCHER Goethes Clavigo: Das Melodrama des Bildungsbürgers im Trauerspiel des Sturm und Drang Zwei Begriffe meines Titels, Bildungsbürger und Melodrama, mögen überraschen. In beiden Momenten zeigt Goethe bereits 1774, so meine These, Grenzen des adaptierten Genres auf, von denen die Poetik des bürgerlichen Trauerspiels im Sturm und Drang bis in die 80er Jahre hinein bestimmt bleibt: die Problematik einer bürgerlichen Ethik, die einen Anspruch auf politische Utopie erhebt, und das bühnentechnische Dilemma der empfindsamen Versöhnung im Tod, in der diese Ethik seit Lessing ihre dramatische Erfüllung zu finden pflegt.1 Vergleicht man Goethes Stück mit Beaumarchais' Denkschrift, wie es zuletzt Wolfgang Leppmann getan hat, so ist gegen Leppmanns Ansicht, daß Goethe hier einen "direkten Vorläufer des Dokumentarstücks" à la Hochhuth geschaffen habe,2 meines Erachtens deutlich zu erkennen, daß Goethe aus dem mehr oder weniger faktischen Material ein bürgerliches Drama gestaltet.3 Die verletzte Ehre der adligen Familie Beaumarchais wird zur Versorgungstragödie der mittellosen Tochter einer Kaufmannsfamilie. Aus der durchaus selbstbewußten und robusten Marie-Louise wird die kränkelnd empfindsame Marie. Aus Beaumarchais' durchtriebenem Clavigo wird der zwischen Machtgelüsten und empfindsamen Gewissensqualen, zwischen öffentlicher Stellung und privater Familienethik zerrissene Gegenpart des zur Melancholie disponierten Mädchens. Aus dem profanen Schluß der Episode — der im Vergleich zum Aufsteiger Clavigo keineswegs machtlose Beaumarchais erreicht durch direkte Vorsprache beim spanischen König die Entlassung des Widersachers aus allen Ämtern — wird die rührende Versöhnung über den Leichen des ungleichen Liebespaares. Ausgespart hat Goethe den in den bürgerlichen Dramen des Sturm und Drang häufig offen angesprochenen Ständekonflikt (er ist allenfalls in Buencos Klagen über die Schranken seines Standes und in der moralischen Bewertung von Carlos' Intrige zitiert), der eine völlige Umkehrung der tatsächlichen Machtverhältnisse in Beaumarchais' Bericht erfordert hätte. Statt 48 Bernd Fischer dessen bietet Goethe mit der eigens hinzuerfundenen Figur des Carlos eine dialogische Auseinandersetzung mit den Prinzipien regierender Machtaus- übung. Der Diskurs der höfischen Karriere kreist um das Recht des 'außerordentlichen Menschen' und konfrontiert die politische Problematik einer Regierungsgewalt, die sich außerhalb der bürgerlichen Moral definiert, mit dem ebenfalls übermoralischen Anspruch des 'Genies,' wie es im Sturm und Drang konzipiert wurde. Der Anspruch auf politische Macht des 'außerordentlichen Menschen' findet sich sowohl bei Goethes (verbürgerlichtem ) Beaumarchais als auch bei Carlos, dem Vertreter des Hofes. Entsprechend markieren diese Figuren, die sich als kraftgeniale Stürmer und Dränger auf nahezu identische Ideale von heroischem Handeln berufen, die politischen Pole des Stücks. Der Titelheld aber, dem sowohl am Hof als auch im Bürgerhaus tatsächlich das Zeug für eine außergewöhnliche Karriere zugesprochen wird, ist kein kraftmeierischer Stürmer und Dränger, sondern ein kenntnisreicher, literarisch geschulter Schriftsteller und Propagandist des 'guten Geschmacks.' Damit integriert Goethe in die vielfach zitierte Dramatik des Sturm und Drang ein neues Persönlichkeitsbild eines kartiere- und gesellschaftstauglichen Aufsteigers, den er gleichwohl scheitern läßt. Ingrid Strohschneider-Kohrs, die den Grundkonflikt des Stücks im für das bürgerliche Genre typischen Widerspruch von Öffentlichem und Privatem ansiedelt, findet eine Erweiterung der Gattung in dem Umstand, daß Goethe diesen Konflikt als "inneren Zwiespalt einer Hauptfigur" gestaltet.4 Das eigentlich zukunftsweisende Moment dieser zerrissenen Hauptfigur entdeckt sie in Clavigos Berufung auf eine "'ungewöhnliche,' 'außerordentliche' — im Grunde wieder 'heroisch' zu nennende Kraft— ; eine 'vertu' nun gewiß, die nicht im Verstand, im Wissen, in der Tugendkonvention, sondern jetzt auf dem Vermögen des Herzens, der inneren Selbstfindung gründen soll."5 Diese Ebene läßt sich dem Stück als Moment des Selbst- und Berufungsbewu ßtseins (vor allem von Carlos, der es dann auch für Clavigo formuliert) gewiß nicht absprechen. Ob das Stück dieses Bewußtsein aber tatsächlich als 'heroische innerliche Erhabenheit' gelten läßt, demzufolge bürgerliche Empfindsamkeit und der vom Sturm und Drang zur Seelengröße weiterentwickelte magnanimitas-Begriff des heroischen Dramas zusammenfallen, ist eine andere Frage.6 Dagegen steht zunächst ein weit effektvolleres Argument, mit dem Carlos seinen Freund in dem Entschluß, in die tugendhafte Beschränkung der empfindsamen Familie zurückzukehren, am signifikantesten erschüttert. CARLOS: Ha! werden unsere...

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