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EITEL ΉΜΜ Das Politikum der Größe: Goethes Institutionenkritik am Leitfaden der Depravationstheorie Gottfried Arnolds Das weitgehend akzeptierte Diktum, es handele sich bei der Bewegung des Sturm und Drang um "die deutsche Form der Französischen Revolution,"1 vermag — trotz aller berechtigten Skepsis gegenüber epochalen Rahmensetzungen — immerhin die Tragweite der komplexen Beziehung zwischen Religionsaufklärung und Gesellschaftsphilosophie im Hinblick auf das darzustellende Problem der strukturmäßig verwandten Größe genialischen Schöpfertums und individueller Häresie weitläufig zu umreißen. Die durch den Pietismus entfachte Debatte um Innerlichkeit und Öffentlichkeit gewinnt vor dem Hintergrund der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert einen zusätzlichen Gesichtspunkt, der die Herausbildung einer Gefühlskultur als deutsche Eigenheit erscheinen lassen muß. Das im Vergleich mit England und Frankreich von jeglicher politischer und sozio-ökonomischer Verantwortung weit entfernte deutsche Bürgertum entfaltete — der Deutung in den Standardkommentaren folgend — eine Fluchtbewegung ins Private, die als Kompensationsmechanismus für gesellschaftliche Ohnmacht aufgefaßt worden ist.2 Der Formulierung dieses linearen Traditionszusammenhanges ist aber mehrfach unter dem Hinweis auf die für die bürgerliche Emanzipationsgeschichte folgenreiche pietistische Innerlichkeit widersprochen worden.3 Danach seien die Setzungen des Privaten im Pietismus gerade aus dem expliziten Gegensatz zum Öffentlichen mit Blickrichtung auf den repräsentativen Zweck unternommen worden. Gegen die Eskapismus-These ließe sich auch einwenden, daß weder die Privatheit der aus dem Pietismus herausgewachsenen Empfindsamkeit noch die entstehende bürgerliche Rationalität im 18. Jahrhundert in allen jeweiligen Erscheinungsformen als autonom gedeutet werden müssen, sondern durchaus auch als Kontrafaktur höfisch-absolutistischer Selbstdarstellung verstanden werden können.4 So gesehen wäre die Dialektik von privatem Subjektivismus und bürgerlich-höfischem Realitätsprinzip eine antizipierte Befindlichkeit, die zum Zeitpunkt der Formulierung ketzerische 26 Eitel Timm Züge trägt, auch wenn im Einzelfall das volle Bewußtsein des häretischen Potentials fehlen mochte. Wo allerdings Geistesbewegungen an die Grenzen des Sturm und Drang stoßen, wie etwa in der Themenstellung der Straßburger Dissertation Goethes, wird das politisch-gesellschaftliche Moment im Verhältnis von Innerlichkeit und Öffentlichkeit zum entscheidenden Bewertungskriterium und entfaltet damit das bei Gottfried Arnold angelegte Kritikprogramm. Goethes Entscheidung, den Konflikt zwischen Staat und Kirche zum Gegenstand seiner zur Promotion führenden Arbeit zu machen, verdeutlicht, in wie zentraler Weise religionsphilosophische Probleme zum Schlüssel für die komplexen Verstehensmomente des Sturm und Drang werden können. Goethe spricht daher sicher den Kern der aktuellen Interessenlage zu Beginn der siebziger Jahre an, wenn er behauptet, daß ihm "die Kirchengeschichte [...] fast noch bekannter als die Weltgeschichte"5 ist. Die Kirche liege "in ewigem Streit mit dem Staat"; "der Staat will alles zu öffentlichen, allgemeinen Zwecken, der einzelne zu häuslichen, herzlichen, gemütlichen."6 Das Konzept des Sturm und Drang als aufklärerische Kritik an Autoritäten und Konventionen und als eine gegen die Aufklärung selbst gerichtete Bewegung , die die neuerliche Tyrannei des über alles erhobenen Verstandes bekämpft, erscheint im Denken Goethes zu Anfang der siebziger Jahre im Vergleich mit Zeitgenossen weitaus radikaler und zeugt von einem ausgepr ägten Ketzerbewußtsein, aus dem heraus sich die geistesgeschichtliche Position Goethes vielleicht am überzeugendsten bestimmen läßt. Die nicht erhaltene Dissertation, über die wir in Dichtung und Wahrheit einige wenige, aber doch präzise und für die sich unter dem Einfluß Arnolds entwickelnde Anschauung hinsichtlich Kirchengeschichte und Kirchenrecht charakteristische Hinweise erhalten, soll dies am Leitfaden der Arnoldschen Ketzertypologie verdeutlichen. Goethe bemerkt ausdrücklich, daß die Arbeit von der juristischen Fakultät wegen ihres gefährlichen Inhaltes nicht als akademische Dissertation zum Druck freigegeben wurde; er hätte sie aber als "Privatmann und Protestant" jederzeit selbst herausgeben können.7 Das Provozierende der Dissertation darf sicher nicht allein in dem rein juristischen Problem der Trennung von weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit gesehen werden. Goethe, der hierin den naturrechtlichen Vorstellungen Spinozas folgt,8 fordert die Unterstellung des gesamten religiösen Kultus unter die staatliche Gesetzgebung, will aber das Private der Religion unangetastet lassen. Das Aufrührerische war nicht der ja auch schon bei Hobbes absolutistisch verankerte Primat des Staates über die Kirche, sondern die zugrunde liegende, von Arnold herausgearbeitete Gesetzmäßigkeit bezüglich Kirche und Staat. Denn die pietistische Kritik an dem zeitgenössischen Christentum beinhaltet...

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