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GUNTER MIETH Was war deutsche Lyrik im Jahrzehnt der Französischen Revolution? Erscheinungen, Vermittlungen, Fragen De r 200. Jahrestag der Französischen Revolution hat mit den vielen Konferenzen und Publikationen eine kaum überschaubare, geschweige denn forschungsgeschichtlich bilanzierbare Fülle von neuen Einsichten in das Beziehungsgefüge zwischen diesem welthistorischen Ereignis und der deutschen Literatur der Zeit erbracht. Dabei wurde manche bis dahin übliche undifferenzierte Betrachtungsweise überwunden . Dies gelang vor allem und zu allererst in den in der Vielzahl — wenn ich recht sehe dominierenden — monographisch orientierten Beiträgen. Weshalb weitreichende Verallgemeinerungen fast völlig ausblieben oder dort, wo sie versucht wurden, den Erwartungen nicht entsprachen, weil nur allzu bekannte Theoreme weitergeschrieben wurden, scheint des Nachdenkens wert. Nun soll natürlich keineswegs in hybrider Manier im Rahmen eines Vortrags versucht werden, das nachzuholen, was die internationale Forschung nicht eingeholt hat. Besetzt werden soll nur eine Fragestellung , die im Umfeld des Jahres 1989 eigentlich keine Aufmerksamkeit gefunden hat, obschon gerade das Gegenteil zu erwarten gewesen wäre. Denn ist nicht gerade die Lyrik der Geschichte unmittelbarer auf der Spur als epische oder dramatische Werke? Reagiert nicht diese Gattung sowohl im einzelnen Gedicht wie im gesamten Gattungsgefüge schneller auf einen epochalen Erfahrungswandel, indem sie neue Befindlichkeiten artikuliert, sie gar neu formt oder formiert? Jenseits dieser Imponderabilien wird hier nur die sich zu bescheiden wissende Absicht verfolgt, einige Erscheinungsformen von Lyrik im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zur Sprache zu bringen und nach einigen in ihnen zum Ausdruck kommenden oder ihnen zugrunde liegenden Vermittlungen zu fragen. Anspruch auf Repräsentanz oder gar Systematik wird nicht erhoben, zumal ich im zweiten Teil meiner Ausführungen dem weniger oder kaum Bekannten den Vorzug geben möchte. Als Orientierungspunkte des von mir ausgewählten Materials sollen vor allem der Beginn und das Ende des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts gelten: also die Jahre 1790 und 1799- 170 Günter Mieth Lassen Sie mich mit drei literaturhistorisch bekannten und gleichzeitig signifikanten kleinen Szenen beginnen. Erste Szene: Sie spielt am 14. Juli 1790 in dem unweit Hamburgs an der Alster gelegenen Landhaus des Großkaufmanns Georg Heinrich Sieveking, des Schwiegersohns von Lessings Freund Johann Heinrich Reimarus. Die dort Zusammenkommenden — unter ihnen Freiherr von Knigge — feiern ein "Freiheitsfest" aus Anlaß des ersten Jahrestages des Sturmes auf die Bastille. Bei Musik und lautem Jubel trinkt man auf die Abschaffung des Despotismus in Frankreich und — wie wörtlich überliefert — "auf baldige Nachfolge in Deutschland."1 Der 66-jährige Klopstock ist ebenfalls dabei, und er trägt zwei eigene Oden vor: "Sie und nicht wir" und wohl "An Cramer den Franken." Bei dieser Feier, an die sich Klopstock noch am 15. Juli 1801 in einem Brief an Carl Friedrich Cramer erinnert, wurde aber auch das von Johann Heinrich Voß und Friedrich Schulz verfaßte "Freiheitslied" gesungen, und in den Chorpart stimmten alle ein. Also: Eigens für einen bestimmten Zweck verfaßte Gedichte werden vom Dichter selbst in einem gleichgesinnten Kreis vorgetragen, sie werden hörend rezipiert, während ein anderer Text — teils von einem Chor, teils von allen Anwesenden gemeinsam — gesungen wird. Wie Ihnen vielleicht bekannt sein dürfte: Es war Klopstock, der allergrößten Wert auf den mündlichen Vortrag von Gedichten und damit auf das Hören als Rezeptionsform legte. So erhob er in dem Epigramm "Das Entscheidende" vom Jahre 1800 die "schöne Sprechung" zur "Oberrichterin" des Gedichts.2 Und auch Johann Heinrich Voß gab uns 1794 ein Zeugnis, daß er gar seine Homer-Übersetzung bewußt "für den lebendigen Vortrag gearbeitet" habe und sie "nicht mit den Augen, sondern mit den Ohren vernommen werden" wolle.3 Zweite Szene: Sie trägt sich ebenfalls 1790 zu, in einem "niedlichen Gartenhäuschen" in Tübingen. Versammelt ist hier ein kleiner Kreis junger Freunde und Dichter, unter ihnen Friedrich Hölderlin. Dort singt man bei Rheinwein "alle Lieder der Freude nach der Reihe durch." Den Höhepunkt des "Gesellschäftchens," wie es im Zeugnis heißt, bildet — bei Punsch — Schillers Lied "An die Freude," jener Text, der übrigens in dieser Zeit durchaus als Revolutionslied fungieren konnte. Also auch hier wie in Harvestehude bei Hamburg der gemeinsame Gesang von Lyrik als Ausdruck von Enthusiasmus. Friedrich Magenau, Hölderlins Freund, schilderte...

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