In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

ALBERT MEIER Im Mittelpunkt des Schönen: Die metaphysische Aurwertung Roms in Karl Philipp Moritz' Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 Die menschlichen Gedanken verlangen in der Geschichte, wo so vieles sich durchkreuzt, irgend eine große Einheit, woran sich das übrige anschließen kann; und Rom ist auf dem ganzen Erdboden gewiß der Fleck, welcher seit Jahrtausenden durch die interessanteste Geschichte am ununterbrochensten bezeichnet ist.1 Wenn Johann Wolfgang Goethe im Spätherbst 1786 die Freunde in Weimar erst nach seiner Ankunft in Rom wissen läßt, wohin ihn die als Flucht inszenierte Abreise aus Karlsbad von Anfang an führen sollte,2 dann signalisiert allein schon dieses Heimlichtun, daß Rom keine Reisestation wie die anderen bedeutete. Hatte Goethe zunächst in eher bedächtiger Weise eine der traditionellen Routen deutscher Italientouristen genommen und sich frei von Hast in Verona, Vicenza und Venedig umgesehen, so entschied er sich am 18. Oktober 1786 in Bologna zum Verlassen der eingefahrenen Wege, die 1740 z.B. seinen Vater Johann Caspar Goethe tiefer in den Süden geführt hatten. Die zum Ausbruch gekommene Ungeduld des Sohnes erlaubte nicht mehr den weitschweifigen Umweg von Bologna aus an die Adriaküste und anschließend von Nordosten her über den Apennin nach Rom, sondern forderte die für Vergnügungsreisende ganz ungewohnte, weil reizlosere Direttissima: Ich habe eben einen Entschluß gefaßt der mich sehr beruhigt. Ich will nur durch Florenz durchgehn und grade auf Rom. Ich habe keinen Genuß an nichts, biß jenes erste Bedürfniß gestillt ist [...].3 In Italien wirklich angekommen fühlte sich Goethe erst in Rom, obwohl dieses einstige 'caput mundi' sich noch immer nicht von den historischen Katastrophen des Mittelalters und der frühen Neuzeit erholt hatte. An Bevölkerungszahl den eigentlichen italienischen Metropolen Venedig und vor allem Neapel4 ebensosehr unterlegen wie an Wirtschaftskraft , besaß Rom im späten 18. Jahrhundert als Verwaltungszentrum des ökonomisch rückständigen Kirchenstaates nur regionale 144 Albert Meier Bedeutung, war auf weiten Flächen völlig verödet und bot einem anspruchsvollen Besucher aus dem Norden keinen Gesprächspartner, der es mit der kritischen Avantgarde um die Brüder Verri und Cesare Beccaria in Mailand oder mit den Neapolitanern und Sizilianern um Gaetano Filangieri hätte aufnehmen können. Bei Johann Wilhelm von Archenholz (einem freilich notorischen Italienkritiker) heißt es ganz unumwunden: Nur allein die Menge der Künstler und der Reisenden erhält hier 170,000 Einwohner. Ein ganz vernachlässigter Ackerbau, ein unbedeutender Handel, eine geringe Anzahl Fabriken und Manufakturen, nebst einer ungeheuren Menge Mönche, machen Rom verhältnißweise zu einer der ärmsten Städte von Europa.5 Die literarische Begeisterung für Rom, wie sie schon wenige Jahre später z.B. bei Ludwig Tiecks Franz Sternbald oder Joseph von Eichendorffs Taugenichts (und bei E.T.A. Hoffmann höchstpersönlich)6 als Synonym für irdisches Glück beliebt werden sollte, läßt sich um 1800 mit den realen Lebensumständen in der Ewigen Stadt jedenfalls nicht zureichend begründen. Dieser Enthusiasmus der Romantiker besitzt vielmehr den Charakter einer kulturellen Phantasmagorie, die sich unter dem Eindruck der ästhetischen Rom-Deutung Johann Joachim Winckelmanns zunächst bei Wilhelm Heinse angedeutet hatte7 und schließlich in Goethes Italienischer Reise kanonische Geltung gewann. In seinen Ende 1820 erschienenen Impressionen Rom, Römer und Römerinnen setzt Wilhelm Müller die Rede von Rom als dem "Mittelpunkt von Italien"8 schon ganz selbstverständlich als Topos ein, und 1830 erhebt Wilhelm von Humboldt in seiner Rezension von Goethes Zweitem römischen Aufenthalt die Formel von Rom als einem in sich 'Vollendeten ' zum Paßwort des genuin deutschen Italienverständnisses: Wie durch eine besondere Gunst des Geschickes, der wir uns dankbar erfreuen können, steht Rom für uns da zugleich als ein Voffendetes und Unendliches der Einbildungskraft und der Idee, das sich aber in lebendigem Daseyn erhalten hat, mit leiblichen Augen geschaut werden kann.9 Prosaischer betrachtet, erinnerte die Stadt damals — von wenigen Straßen und Stadtvierteln abgesehen — allerdings weit mehr an ein verwahrlostes Dorf als an die einstige Metropole der Welt und künftige Hauptstadt eines italienischen Nationalstaates. Eine eventuelle 'Großstadt '-Sehnsucht h...

pdf

Share