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KLAUS L. BERGHAHN Das Andere der Klassik: Von der "Klassik-Legende" zur jüngsten Klassik-Diskussion "Der Himmel behüte uns vor ewigen Werken." Als Friedrich Schlegel diese Mahnung im Jahre 1797 niederschrieb, gab es noch keine deutschen Klassiker, wohl aber eine erste Debatte über die Möglichkeiten einer klassischen deutschen Prosa.1 Wie sich aus dieser und den folgenden Debatten im 19· Jahrhundert der Epochenbegriff "Deutsche Klassik" herauskristallisierte, darüber sind wir durch die jüngsten Forschungen zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte bestens informiert.2 Der Epochenbegriff "Deutsche Klassik" ist das Konstrukt liberaler und deutschnationaler Philologen, die in dürftiger Zeit jenen nationalen Mythos schufen, um kulturpolitisch die Einigung Deutschlands vorzubereiten. Als die nationale Einheit 1871 endlich erreicht war, fiel sie zwar anders aus, als manche ihrer literarischen Propagandisten sie sich vorgestellt hatten, aber als kultureller Kristallisationskern der Nation hatte sich die "Deutsche Klassik" schon so tief ins kollektive Bewußtsein eingenistet, daß man ihre normative Kulturfunktion kaum überschätzen kann. Von nun an galten die Werke Goethes und Schillers als Ewigkeitswerte deutscher Bildung. Von der Hohenzollern-Germanistik in Berlin über die "Deutsche Bewegung" bis hin zur Erbepflege in der DDR diente die "Deutsche Klassik" der nationalen Identitätsstiftung und Legitimation. Diese Klassildegenden einer politisierenden und nationalen Literaturgeschichtsschreibung wurden 1970 auf dem zweiten Wisconsin Workshop in Madison ideologiekritisch analysiert.3 Es lohnt sich, zu dieser so oft mißverstandenen Kritik des Epochenbegriffs "Deutsche Klassik" zurückzukehren, da sie einen Wendepunkt in der Beurteilung jener Epoche markiert und auch die Literaturgeschichtsschreibung der folgenden Jahre beeinflußte. Den historischen Stellenwert der "KlassikLegende " darf man dabei nicht übersehen, denn sonst erscheint sie bloß als eine seltsame Episode, für die sich schon die typologische Bezeichnung "Klassik-Schelte" eingebürgert hat. So heißt es in Barners Vorbemerkungen, mit denen er eine erneute Klassik-Debatte anregen möchte: "Die 'Hassik'-Diskussion als ideologiekritische 'Klassikerschelte,' 2 Klaus L. Berghahn wie sie die 60er und beginnenden 70er Jahre zu einem wesentlichen Teil bestimmte, scheint einstweilen abgeklungen."4 Zu fragen wäre, warum es damals eine so lebhafte und kontroverse Klassikdebatte gab, die sich heute nicht so schnell wiederholen läßt; und zu fragen wäre darüberhinaus , ob das, was man heute so leichtfertig als "Klassikerschelte" abtut, damals nicht notwendig, produktiv und auch folgenreich war. "Die Klassik-Legende" im Kontext Bei der heute üblichen Reduktion der "Klassik-Legende" auf eine "Klassikerschelte" gewinnt man den Eindruck, daß sich damals einige frustrierte Germanisten als Ikonoklasten betätigten, um sich ihr Mütchen an den Klassikern zu kühlen, sie zu denunzieren oder sie gar aus dem Lesekanon der Schulen zu verbannen.5 Man übersieht dabei geflissentlich , daß es sich nicht um eine Schelte der Klassiker sondern um eine Kritik der deutschen Ideologie handelte, und man vergißt dabei meist, von welchen Zeiten da die Rede ist. Es herrschte damals nicht nur in Akademia ein kritischer und oppositioneller Geist, der innerhalb der Universitäten allemal antiautoritär und antiklassizistisch war. Erinnern wir uns. Ohne auf alle Aspekte der gesellschaftlichen Krise der Bundesrepublik am Ende der Sechziger Jahre einzugehen und ohne die Kultur zu einem bloßen Reflex auf diese Krise zu reduzieren — denn sie amplifizierte sie auch — , läßt sich doch so viel stichwortartig rekapitulieren .6 Die Wirtschaftskrise von 1966 erschütterte erstmals den Mythos einer sozialen Marktwirtschaft und einer klassenlosen Konsumgesellschaft . Auf die Formierung einer Großen Koalition im gleichen Jahre reagierte eine außerparlamentarische Opposition (APO), die vor allem gegen die Verabschiedung der "Notstandsgesetze" protestierte. Als Ausdruck einer moralischen Krise lassen sich der Frankfurter AuschwitzProze ß und die Verjährungsdebatten deuten, denn beide machten auf erschreckende Weise deutlich, wie sehr die faschistische Vergangenheit verdrängt worden war und die Gegenwart immer noch belastete. Dem moralischen Protest gegen den unbewältigten Faschismus folgte der politische, der ungleich radikaler war. Die Studentenrevolte trug diesen Protest in die heiligen Hallen der Universität, indem sie auch dort Spuren der braunen Vergangenheit aufdeckte, die autoritären Strukturen der Ordinarienuniversität und ihren musealen Bildungsbegriff kritisierte. Auch und gerade die Germanistik mit ihrer deutschtümelnden Klassikverehrung und nationalistischen Vergangenheit wurde zu einem Prüfstein einer sich kritisch verstehenden Literaturwissenschaft. Den Auftakt zur Klassik-Diskussion bildete der 1964 erschienene Band mit der provozierenden Frage...

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