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RAINER NAGELE Review Essay: Offenbare Geheimnisse Eissler, Kurt R., Goethe. Eine Psychoanalytische Studie. Bd. 1. Frankfurt/Main: Roter Stern Verlag, 1983. Zwei Jahrzehnte nach der amerikanischen Ausgabe erscheint nun Eisslers psychoanalytische Goethe-Studie in deutscher Übersetzung. 785 Seiten umfaßt der bisher erschienene erste Band, 1540 Seiten das zweibändige amerikanische Original. Die anderthalb tausend Seiten behandeln ein knappes anderthalb Jahrzehnt aus Goethes langem Leben, die freilich in vieler Hinsicht entscheidenden Jahre von 1775-1788, vom Beginn der Weimarer Zeit bis zum Ende der italienischen Reise. Solche quantitativen Verhältnisse haben etwas Monumentales an sich noch vor allem Inhalt. Die reine formale Größe drängt sich als unübersehbar auf. So fällt denn nicht zufällig den deutschen Herausgebern neben Marie Bonapartes Poe-Studie Sartres Flaubert ein. Gerade in diesem Einfall aber zeigt sich das Formale des Vergleichs: Sartres Flaubert-Monographie ist vieles, aber sie ist und will keine psychoanalytische Studie sein. Am ehesten noch ließe sie sich als phänomenologisch mit psychologischem Einschlag charakterisieren. Auf die Gefahr hin, pedantisch zu erscheinen, möchte ich auf dieser Differenz beharren, sowohl im Namen Freuds und seiner Psychoanalyse wie auch im Namen der Poesie, die beide auf ihre je verschiedene Weise Genauigkeit in dem Maße verlangen, als sie die Grenzen und Ränder unserer Weltbilder verschieben. Wenn die Herausgeber meinen, daß eines mit dem andern "im gleichen Atemzug" zu nennen sei, so scheint mir, wenn das zu sagen erlaubt ist, ein solcher Atem etwas anrüchig; oder mehr zur Sache: es scheint, daß man sich hier wenig Gedanken macht darüber, was es mit der Psychoanalyse auf sich habe. Wenn aber eine solche Übersetzung und ein solcher Aufwand einen Sinn haben sollen, so läge er doch wohl darin, derartige Gedanken zu provozieren. Es ist im Vorwort der Herausgeber viel davon die Rede, daß die verspätete Übersetzung mit einer Verweigerung in der deutschen Wissenschaftsgeschichte zu tun habe. Daran ist nicht zu zweifeln. Im Klappentext sagt es unverblümter noch Peter von 198 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA Matt: "Der Einbezug psychoanalytischer Kriterien in die Literaturwissenschaft ist in der Germanistik lange Zeit fast als Kulturschande betrachtet worden." Die überwiegend positiven Rezensionen seit dem Erscheinen des ersten deutschen Bandes haben es mehrfach wiederholt, wobei jeweils ein gewisser moralistischer Ton nicht zu überhören ist. Wenn das Zeichen eines weit verbreiteten Gesinnungswandels in der deutschen Wissenschaft sind, kann ich den Nebentönen doch nicht ganz trauen. Zu fragen bleibt auf jeden Fall: was ist die Stelle der Psychoanalyse, deren Anspruch ja der Titel von Eisslers Studie erhebt? Und was ist die Antwort auf diesen Anspruch? Der Klappentext läßt nach Peter von Matt Jost Hermand zu Wort kommen: "Aber selbst die Anti-Freudianer werden entdecken, daß Eissler ein wirklicher Biograph ist, der viele faszinierende Details in Goethes Privatleben entdeckte, die bisher übersehen worden waren." Genauer als durch diese Zitatkonstellation hätte der Verlag die Ambivalenz des Unternehmens nicht dokumentieren können. Hermand formuliert präzise in verdichteter Form, was wiederum fast als Leitmotiv die bisherigen Rezensionen durchzieht: mit der Psychoanalyse mag man es halten, wie man will, das Buch liest sich gut, erzählt interessante Geschichten und gibt möglicherweise allerlei indiskrete Blicke frei in Goethes Privatleben. Es ist nichts gegen ein solches Interesse einzuwenden, und die Lust an gut erzählten Geschichten ist eine schöne Lust. Aber man soll dann ehrlich sein und nicht im Namen einer Ehrenrettung der Psychoanalyse in der Literaturwissenschaft den moralischen Zeigefinger gegen jene erheben, die die Literaturwissenschaft von der Psychoanalyse abgrenzen wollen. Mit dem Moralisieren beginnt die schleichende Verdrängung, deren Widerstand stärker, weil unangreifbarer, ist als die offene Gegnerschaft. Hermands ungeschminkte Abgrenzung setzt da wenigstens die Positionen klar: Eissler als "wirklicher Biograph" wird zum Antipoden Freuds, der am 31. Mai 1936 an Arnold Zweig kurz und bündig zusammenfaßte, was es mit Biographien und Biographen vom Standpunkt der Psychoanalyse aus auf sich hat: "Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen."1 Es gibt keine Versöhnung...

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