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FRIEDERIKE EIGLER Wer hat 'Wilhelm Schüler' zum 'Wilhelm Meister' gebildet? Wilhelm Meisters Lehrjahre und die Aussparungen einer hermeneutischen Verstehens- und Bildungspraxis I. Die Entstehung des Gattungsbegriffs 'Bildungsroman' und die hermeneutische Tradition der Literaturwissenschaft Es WIRFT NICHT nur Licht auf Goethes Verhältnis zu seinem eigenen Werk, wenn er von "Wilhelm Schüler" spricht, "der, ich weiß nicht wie, den Namen Meister erwischt hat."1 Rückblickend kann man darin zugleich einen Kommentar zur Rezeptionsgeschichte lesen, die sich Wilhelm Schüler, eingebettet in ein bürgerliches Bildungs(roman)konzept, zum Wilhelm Meister bildete. Doch zunächst sei an die Ursprünge dieser Bildungstradition erinnert. Während der Arbeit an Wilhelm Meisters Lehrjahren stand Goethe in engem Kontakt mit Herder. Er sah sich durch die Bildungskonzeption, die Herder seit seiner französischen Reise (1769) entwickelte, angeregt und zugleich bestätigt in seinen eigenen naturwissenschaftlichen Studien.2 Mit der Loslösung von einer religiös orientierten Bildungsidee fiel die Frage nach Bildungsinhalten und Bildungsziel auf den Menschen selbst zurück; dies ist aber zugleich die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des neuen Bildungsbegriffs: Selbstverantwortung auf der einen, Selbstüberschätzung in dem Postulat einer autonomen Persönlichkeit auf der anderen Seite. In Herders Briefen zur Beförderung der Humanität läßt sich diese Ambivalenz erkennen: 94 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA Vollkommenheit eines einzelnen Menschen ist also, daß er im Continuum seiner Exsistenz [!] Er selbst sei und werde. Daß er die Kräfte brauche, die die Natur ihm als Stammgut gegeben hat, daß er damit für sich selbst und andere wuchere . . . .3 Das Postulat eines Menschen, der im "Continuum seiner Exsistenz Er selber sei und werde" wird bei Goethe in Wilhelm Meisters Lebensweg thematisch und zugleich problematisch. In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit wird darüberhinaus der Zusammenhang zwischen Bildungsoptimismus und einer positiven Geschichtsauffassung deutlich: Goldene Kette der Bildung also, die die Erde umschlingt und durch alle Individuen bis zum Thron der Vorsehung reichet, seitdem ich dich ersah und in deinen schönsten Gliedern verfolgte, ist mir die Geschichte nicht mehr . . . ein Greuel der Verwüstung auf einer heiligen Erde .... Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der Humanität auf und ziehet palingenetisch in Völkern, Generationen und Geschlechtern weiter.4 Mit der Verknüpfung der Begriffe Bildung und Humanität ist der Grundgedanke angesprochen, der—entpolitisiert und auf reine Geistesbildung verengt—bis weit ins 20. Jahrhundert eine humanistische Bildungstradition bestimmte; ihre Legitimation fand sie weniger in Herder, als in der auf seinem Denken gründenden Weimarer Klassik.5 An der Rezeptionsgeschichte der Lehrjahre läßt sich der Projektionsmechanismus , in dem das eigene harmonisierende Bildungsverständnis mit Vorliebe auf Goethe übertragen wird, beispielhaft zeigen. Die systematische Reduzierung des Romans beginnt bereits bei seinen Zeitgenossen und findet in der Prägung und Fortschreibung des Gattungsbegriffs Bildungsroman ihren Höhepunkt. Christian Gottfried Körner denkt sich 1796 in einem Brief an Schiller "die Einheit des Ganzen ... als die Darstellung einer schönen menschlichen Natur, die sich durch die Zusammenwirkung ihrer innern Anlagen und äußern Verhältnisse allmählich ausbildet. Das Ziel dieser Ausbildung ist ein vollendetes Gleichgewicht—Harmonie mit Freyheit."6 In diesem Sinne und weiterhin in Hinblick auf Goethes Roman prägt wenige Jahre später der Dorpater Professor Karl Morgenstern den Begriff "Bildungsroman," der folgenreich für die Entwicklung der Literaturwissenschaft werden sollte. Bildungsroman wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs, weil er des Helden Bildung bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt; zweytens aber auch, weil er gerade durch diese Darstellung des Lesers Bildung in weiterm Umfang als jede andere Art des Romans, fördert.7 Mit Diltheys Ausdifferenzierung der Morgensternschen Definition wurde der Begriff des Bildungsromans salonfähig für die Literaturwissenschaft.8 Während für den maßgeblichen Teil der Wilhelm-Meister-Forschung gilt, daß gefunden wurde, was man suchte, ein Held, der sich zu "einer gewissen Stufe der Vollendung" bildet—zeigt sich im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, Friederike Eigler 95 daß genau diese Teleologie, die auch Schiller suchte, in den Lehrjahren nicht zu finden ist; aus der Reaktion Goethes wird dagegen deutlich, daß gerade in diesem 'Mangel...

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