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SUSANNE ZANTOP Eignes Selbst und fremde Formen: Goethes "Bekenntnisse einer schönen Seele" [ . . . ]aber wer kommt früh zu dem Glücke, sich seines eignen Selbst, ohne fremde Formen, in reinem Zusammenhang bewußt zu sein? (die "schöne Seele") Die Hauptfrage, die das Buch behandelt, ist: wie kann ein Frauenzimmer seinen Charakter, seine Individualität gegen die Umstände, gegen die Umgebung retten? Hier beantwortet ein Mann die Frage durch eine Männin. Ganz anders würde eine geist- und gefühlvolle Frau sie durch ein Weib beantworten lassen. (Goethe, Rezension der "Bekenntnisse einer schönen Seele, von ihr selbst geschrieben," 1806) I AN DER "SCHÖNEN SEELE" scheiden sich die Geister. Seit dem Erscheinen von Goethes "Bekenntnissen einer schönen Seele" im Jahre 1795 hat die pietistische Adlige aus Buch VI der Lehrjahre die Gemüter erregt und kontroverse Reaktionen heraufbeschworen. Sie reichen von Bewunderung für die schöne Seele als Verkörperung harmonischer Innerlichkeit (Goethes Zeitgenossen und neuerdings Farrelly) bis zu rigoroser Ablehnung ihrer "gefühlsschwelgerischen Selbstbespiegelung und empfindsamen Schönseligkeit."1 Dabei steht nicht so sehr Goethes Kunstwerk im Mittelpunkt des Interesses als die Entscheidung der fiktiven Erzählerin, sich von der Welt zurückzuziehen und sich ganz einer asketisch-mystisch verstandenen Religiosität zu widmen. Es ist jedoch weniger die persönliche Einstellung der Leser zum Pietismus oder religiösen 74 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA Mystizismus, die ihre Ablehnung bzw. enthusiastische Aufnahme der "Bekenntnisse" bestimmt: neben der Entscheidung der schönen Seele für die Religion ist es vor allem ihre Entscheidung gegen die konventionelle Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter, die in den meisten (männlichen) Kritikern—von Humboldt über Hegel und Lukács bis zu unseren Zeitgenossen— unterschwellige Animositäten zu wecken scheint. So unterminieren z.B. Heitner's Epithet "pietistic spinster"2 wie seine Hinweise auf die Kälte und Unfruchtbarkeit der schönen Seele ("the moon's infertile rays"3) sein Vorhaben, einen "middle ground" zwischen "acceptance and rejection of this character" zu finden; Sätze wie: "but it is unclear what sort of marriage would have resulted with a woman so devoted to God, so impatient of direction, so disinclined to social activities, and so wary of physical contact"4 unterstreichen seine Fixiertheit auf ein traditionelles Modell der idealen Ehe und des "normalen" weiblichen Sexualverhaltens. Ähnlich ideologisch befrachtet erweist sich Beharriells an Freud orientierte Suche nach der "versteckten Bedeutung" der Bekenntnisse, wie seine unhistorische Anwendung kulturell und historisch determinierter Begriffe wie "earthly love,"5 "priggery,"6 und "normal love relationships" zeigt. Beharriells Grundthese von der "Sexualneurose"7 der schönen Seele läßt ihn den gesamten triebfeindlichen, unemanzipatorischen gesellschaftlich-historischen Kontext ignorieren, in dem sich die pietistische Religiosität der schönen Seele entwickelt.8 Unter Berufung auf eine doppelte Intention Goethes erklärt er die schöne Seele zur Hysterikerin, zum psychoanalysierbaren "Objekt," was es ihm ermöglicht, die Selbst-Konstruktion und -deutung der literarischen Figur zu diskreditieren und durch seine eigene, nicht minder totalisierende, Interpretation zu ersetzen.9 Die feministisch orientierte Kritik der letzten Jahre hat versucht, durch genaues Nach-Lesen die schöne Seele in ihrem sozialen Kontext (so Christine Sjögren10) bzw. ihre Bekenntnisse als paradigmatischen weiblichen Bildungsroman (Marianne Hirsch11) zu verstehen. Meines Erachtens gehen diese Ansätze jedoch nicht weit genug: die—zweifellos notwendige— Rekontextualisierung nimmt die Selbstdarstellung der schönen Seele ernst, reduziert das literarische Produkt "schöne Seele" jedoch auf eine empirische, d.h. historisch reale, Person; der typologische Ansatz wiederum verweist auf die exemplarische Bedeutung des von Goethe geschaffenen Frauenschicksals, vereinfacht jedoch das komplizierte narrative Gefüge, innerhalb dessen sich die "Bekenntnisse" artikulieren, nimmt ihnen also ihre innere Bedeutungsvielfalt, ja Widersprüchlichkeit. Meine Arbeit baut auf den bisher geleisteten feministischen Untersuchungen auf. Anstatt jedoch die schöne Seele allein als Prototyp der unerfüllten, durch die Gesellschaft an der geistigen Entfaltung gehinderten Frau und ihre "Bekenntnisse" als Roman einer gescheiterten Bildung zu sehen, will ich versuchen, das innere Paradoxon dieses Textes zu verdeutlichen, das ihm trotz Susanne Zantop 75 seiner äußerlichen Geschlossenheit solche Explosivkraft verleiht. Zum einen besteht dieser Widerspruch darin, daß sich in den "Bekenntnissen" eine Frau "freischreibt" und zum "Subjekt" erklärt, die letztlich aber doch...

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