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HANS SACHSE Goethes "Logogryph" und "Das Tagebuch" IN SEINER UMFANGREICHEN Rätseldichtung hat Goethe seine Aussage nur ein einziges Mal in einem Logogriphen verschlüsselt: Das erste giebt mir Lust genug, Das zweyte aber das macht mich klug. Er sandte diesen Zweizeiler unter der Überschrift "Logogryph" am 14. Februar 1814 nach Berlin an den vertrauten Brieffreund Karl Friedrich Zelter, den er zuletzt vor 4 Jahren in Teplitz gesehen hatte. Zelter schrieb am 23. Februar zurück, ohne Langermann hätte er den Logogryphen nicht herausbekommen. Mehr ist nicht überliefert. Die Goethe-Forschung paßte bei der Aufgabe, zu einer stichhaltigen Lösung zu gelangen, bis Matthaei 1966 nach ausführlicher Untersuchung der biographischen Bezüge das Rätsel als ein Glied in der großen Konfession Goethes deutete und mit den Worten Schauen-Schaden für gelöst hielt.1 Von anderen Bedenken abgesehen, ist diese Lösung anzufechten, weil sie ein Buchstabentauschrätsel, nicht einen Logogriphen voraussetzt. So fühlte sich der Rätselfreund Kirste auf den Plan gerufen, der nun den Logogriphen (Goethe schreibt ihn mit y, wie viele Zeitgenossen, vielleicht spätlateinischer Schreibung folgend) im eigentlichen Sinne gedeutet wissen wollte. Danach ist ein Logogriph als Netzworträtsel zu verstehen, abgeleitet aus [logos] und [griphos] (Wort und Netz), und verlangt den Bedeutungswandel eines Wortes durch Herausnahme oder Hinzufügen von Buchstaben, z.B. Lieben-Leben, Beischlafen-beschlafen, Lied-Glied, Ecke-Stecken, um nur einige sinnfällige Muster anzuführen. Unter den unzähligen möglichen fand Kirste das Wortpaar Locke/Glocke als gültige Lösung, die den Spuren im Briefwechsel 118 GOETHE SOCIETY OF NORTH AMERICA Goethe-Zelter und dem Entsagungsgedanken des alternden Dichters am ehesten gerecht werde.2 Unter Zustimmung zu den Lösungsworten Kirstes deutete ich dagegen den Logogriphen als verschlüsseltes Bekenntnis Goethes im Vorgefühl verjüngter Lebenskraft, dem Brieffreund anvertraut, den er im nahen Frühling wiederzusehen wünschte. Der so gelöste Logogryph sollte besagen: Die Locke (Symbol für Liebesfreuden) gibt mir soviel Lust, wie ich bedarf. Die Glocke aber (Symbol für die innere Stimme, das durch Erfahrung geschärfte Gewissen) zeigt mir die Schranke. Diese Sinngebung, die ich im Gesprächskreis der Hamburger GoetheGesellschaft vortrug, fand nun entschiedenen Widerspruch von Lohmann, der lateinische Lösungsworte mit einem derben sexuellen Bezug vermutete. Er begründete seine Meinung (nach meiner Veröffentlichung im Goethe Jahrbuch 1972) Im Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstiftes 1973 sehr ausführlich und gab als Schlüsselworte: Vulva/uva. Die Bedeutung dieser beiden Worte braucht für die erste Zeile nicht im Klartext gesagt zu werden; sie korrespondiert für die zweite Zeile mit einer späteren Sentenz im West-östlichen Divan: "Wie man getrunken hat, weiß man das Rechte" (Uva=Traube steht für Wein). In einer Replik habe ich Lohmanns Vokabeln zurückgewiesen, ohne die Möglichkeit einer erotischen oder lateinischen Deutung zu bestreiten.3 Freunde, welche die als derbe und undelikate Maxime zu verstehende Lösung Lohmanns gleichfalls ablehnten, gaben andererseits zu bedenken, daß die Schlüsselworte Locke/Glocke zu zahm seien, als daß sie voll befriedigen könnten, und daß Lohmann der geheimen Aussage des kleinen Rätsels vielleicht näher gekommen sei, als Kirstes Lösungsworte zu deuten erlauben. So blieb meine Aufmerksamkeit weiter auf ein triftiges Netzwort für den "Logogryph" gerichtet, und plötzlich war das Gesuchte da und triumphierte über die Vorgänger. Es wurde auch dem Vermuten Lohmanns auf ein bißchen Kumpanei der Freunde in Hinsicht auf phallisches Vergnügen gerecht. Die Lösung ergab sich bei der Beschäftigung mit einer Textuntersuchung von Goethes 1808 konzipiertem und 1810 niedergeschriebenem Gedicht "Das Tagebuch"4 und fand sich im "Iste," der im "Meister" versteckt liegt. In diesem Gedicht ist ja vom Meister Iste die Rede, der Lust gibt und klug macht. Wie nach jeder Entdeckung wird die Freude bald von Zweifeln überfallen. Gewiß, "Das Tagebuch" mit der "amüsanten Erfindung des Meister Iste" als Bezeichnung für das männliche Glied5 war bei Goethe wie bei den Berliner Nußknackern noch in lebendiger Erinnerung (s.u.). Die erste Zeile des Rätsels wäre mit "Iste" bestens im Zeit-und Überlieferungsbezug gelöst,—freilich ein derberes Wahrzeichen...

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