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Ein anderes Gretchen-Abenteuer: Das Ende der rhetorischen Poesiekonzeption und das fünfte Buch von Goethes Dichtung und Wahrheit
- Goethe Yearbook
- North American Goethe Society
- Volume 12, 2004
- pp. 141-159
- 10.1353/gyr.2011.0210
- Article
- Additional Information
UWE-K. KETELSEN Ein anderes Gretchen-Abenteuer: Das Ende der rhetorischen Poesiekonzeption und das fünfte Buch von Goethes Dichtung und Wahrheit ι Thomas P. Saine hat in seiner Darstellung der Auseinandersetzung deutscher InteUektueUer mit der Französischen Revolution ein zentrales Prinzip Un Goetheschen historiographischen Konzept herausgesteUt : Goethe arbeite geschichtUche Ereignisse so auf, dass sie "suitable for polite company" seien, dass sie—wie Goethe selbst Ui der Campagne in Frankreich den Grafen von Soissons bemerken lässt1—vor den Damen Un häusUchen Zimmer erzählbar würden. Und als Goethe über die Herausforderung nachsann, welche die DarsteUung der unerfreulichen Ereignisse vom Herbst 1792 bedeutete, schrieb er an Sulpiz Boisserée: "Indessen, denke ich, soll es noch hinreichend unterhaltend, hie und da belehrend sein."2 "In essence," so fasst Saine zusammen, "he wanted to make his narrative as much like a novel as possible."3 Was es bedeutete, einen Stoff in die Form eines Romans zu bringen, das wusste man um 1800 in etwa, und das seit den Tagen des Horaz vietfach variierte Prinzip, unterhaltend wie belehrend sein zu sollen, galt Ui Goethes Augen auch für die Darstellung von Sujets, die nicht ganz so dramatisch waren wie jener Versuch der deutschen Fürsten, Un Jahr 1792 die Weltuhr anzuhalten; es galt etwa auch für den Bericht, den Goethe Ui Dichtung und Wahrheit über die—wie er meinte—vietfach und ausreichend beschriebene Situation der deutschen Literatur während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geben woUte, zumal darüber nach seiner Einschätzung das "Urteü . . . wohl ziemUch übereUistUnmen dürfte." Was er darüber zu sagen gedenke, so verkündete er, sei "nicht sowohl[,] wie sie an und für sich beschaffen sein mochte, als vielmehr wie sie sich zu mir verhielt. " Und wie sie sich zu ihm verhielt, das machte er auf dem Fuße deutUch: "Die Uterarische Epoche, in die ich geboren bin, entwickelte sich aus der vorhergehenden durch Widerspruch,"4 d.h. das, was Goethe (und nicht nur er) zumindest im HüibUck auf die Geschichte der deutschsprachigen Literatur5 als eine epochale SchweUe begreift, wird (oftmals mit leicht Uonischem Unterton) Ui Dichtung und Wahrheit als ein Stück (ob nun "wahrer" oder fiktiver) Lebensgeschichte erzählt: wft sehen den Autobiographen den Zustand der Literatur Goethe Yearbook XII (2004) 142 Uwe-K. Ketelsen während der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer "subjektiven Epopöe"7 entfalten, als eine Erzählung für die Damen Un häusUchen Zimmer (um den Grafen von Soissons noch einmal zu bemühen): ein Jüngling mit Uterarischen Ambitionen liest sich (teUs in Opposition zur durchaus noch praktizierten polyhistorischen Methode) durch die Literatur der Jugendzeit des Autors; selbst seinen Schwager Schlosser weiß Goethe auf diese Weise noch Ui seinem Abriss unterzubringen! Zwar hat Goethe mit diesem vor-modernen, "naiven" historiographischen Konzept von Literarhistorie als einer Geschichte (persönhcher) kultureUer Erfahrungen zumindest Ui der akademischen Literaturgeschichtsschreibung keine Schule gemacht; aber seiner Schilderung in Dichtung und Wahrheit wird Ui aUen DarsteUungen Goethes und der Literatur des mittleren 18. Jahrhunderts doch immer ausführUch gedacht. Allerdings verwunderUcherweise sehr ungleichm äßig. Während die Passagen aus dem siebten Buch Un zweiten TeU gebührend berücksichtigt werden, wftd über das dem siebten komplementäre fünfte Buch im ersten TeU entschieden weniger und überdies mit einem deutUch abgestuften Interesse geredet, obwohl jenes—lebens- wie poesiegeschichtUch gesehen—dieses recht eigentUch voraussetzt. Im Hinbück auf das fünfte Buch konzentriert sich die Uteraturwissenschaftliche Aufmerksamkeit ganz auf die Erzählung der Krönung Josephs II. zum Römischen Kaiser Un Jahre 1764; diese Passagen gehören zu den Favoriten der Öwl^-Lektüre.8 Eher Un Vorbeigehen wftd dann noch das "Gretchenabenteuer" berührt,9 das so "harmlos [gewesen ist], dass man sich über die Heftigkeit von Goethes Leiden verwundern"10 müsse; man sieht es aUenfaUs eme genrehafte Ausgestaltung dieser "weibüchen EüiwUkung"11 auf Goethes Lebensgang anstoßen. Folgerichtig bleibt dieses Motiv so beiläufig behandelt, dass Ui der Goetheforschung in aUer Regel als >GretchenJugendUche Erfahrungen< heißt es knapp: Goethe "lernte Freunde kennen, die seine leichte Fähigkeit, Gedichte und Episteln zu verfassen, schätzten und für Machenschaften ausnutzten. . . .nl Goethe Yearbook 143 Diese ungleichmäßige Wahrnehmung der zentralen Motive im fünften Buch von Dichtung und Wahrheit und das minimale Interesse gerade an Goethes dortiger Beschäftigung mit Uterarischen Problemen der Zeit resultieren weniger aus der Anlage des Textes selbst als aus dem methodisch bestimmten BUckwUikel, in dem der Text durch die späteren Leser wahrgenommen wUd: "Auch das Genie beginnt als Talent."17 So lautet der erste Satz, mit dem Karl Viëtor seine DarsteUung des jungen Goethe fast programmatisch beginnt. Nur aus wissenschaftlicher Redlichkeit werden Ui der Perspektive dieses Satzes die Anfange des "Genies" Goethe als eines "Talents" registriert; zu schlagen beginnt das geistesgeschichtUch beflügelte Herz aber erst dort, wo sich—noch einmal mit den Worten Viëtors—von "der dunkel geahnten Dämonie der Naturgewalt"18 schwärmen lässt! Auf Goethe selbst kann sich die stiefmütterUche Behandlung der DarsteUung seiner schriftsteUerischen Anfänge Ui Frankfurt nicht berufen, denn er hat das ausgiebig beachtete siebte Buch thematisch wie strukturell merklich auf das vorausgegangene fünfte bezogen. Dreimal wftd Un siebten Buch auf das Gretchen Un fünften zurückverwiesen19 und dabei ausdrücklich eine ParaUele zwischen ihr und der neuen Leipziger Liebe Katharina hergesteUt. Beide Mädchen warten bei Tisch auf, beide überschreiten die Schranken, die ihre Aufgabe ihnen zieht; beide Affären enden unglücklich und quälend, obwohl (oder vielleicht gerade weU?) beide Mädchen die Uterarische Produktivität des Protagonisten nachhaltig anregen. Vor allem weisen beide Bücher eine auffäUig ähnUche Struktur auf; hier wie dort werden drei thematische Fäden zusammengedreht: Ui beiden Büchern werden ausführUch Uterarhistorische Konstellationen diskutiert, welche die Situation um die Jahrhundertmitte markant konturiert haben, hier wie dort wftd einfühlsam und kritisch zugleich den Schmerzen und den Freuden jugendlicher liebe nachgegangen (wobei die Dramatik der Situation Un siebten Buch aUerdUigs von außen nach Urnen, von einer Kriminalhandlung Ui eine psychologische Betrachtung verlagert wftd), und schUeßUch wird der BUck Ui beiden Büchern auf verblassende Institutionen der öffentlichen Sinnstiftung gelenkt, Un fünften Buch auf den romantischen Abendglanz des HeÃœigen Römischen Reiches deutscher Nation, Un siebten auf den mittlerweUe Un (neologischen) Protestantismus erloschenen Nachglanz der mittelalterUchen Sakramentenlehre. Dabei gelingt es Goethe Un fünften Buch Un übrigen leichter als Un siebten, die Fäden zusammenzuführen: die Uterarhistorischen Konstellationen, die Liebesgeschichte und schUeßUch das GenrebUd von der Krönung Josephs IL werden erzählend so aufeinander bezogen, dass sie wechselseitig Bedeutung für einander bekommen. Die Beschäftigung mit literarischen Konzeptionen bildet das geheime narrative wie thematische Zentrum, auf das die Motivblöcke ausgerichtet sind. Hätte Goethe seine Ãœberlegungen zur Situation der deutschen Literatur während der Mitte des 18. Jahrhunderts so aufbereitet, wie es Ui der disziplinaren Iiterarhistorie seiner Zeit noch üblich war,20 so wäre sein Bericht sicher "gelehrt," aber einigermaßen trocken ausgefaUen. Statt dessen entwirft er gemäß seiner Devise, "hinreichend unterhaltend, hie 144 Uwe-K. Ketelsen und da belehrend" zu sein, eine den "Damen im häusUchen Zimmer" zu erzählende Geschichte, in welcher ein literarisch produktives NatureU den Protagonisten abgibt. Er dynamisiert das Ensemble von Uterarischen Konzeptionen, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts nebeneinander bestehen, über eine Folge von Stationen zu einem Lebensweg; nachgerade phylogenetisch—als habe er bereits Ernst Haeckel gelesen—lässt der Erzähler seinen "Helden" einen Transformationsprozess von der rhetorischen Wirkungspoesie zur produktionsästhetischen Ausdrucksdichtung als eme persönUche, krisenhafte Entwicklung durchlaufen: vom schulmäßigen occasioneUen "Scribenten" Ui Frankfurt zum "Altdeutschen " aus Frankfurt, zum "Stutzer" Ui Leipzig und schUeßUch zum "Genie" Ui Frankfurt und Straßburg.21 Und die DarsteUung des ersten Entwicklungsschritts, des Zusammenbruchs der rhetorischen Wftkungspoesie verbindet er mit einer liebes- und Kriminalstory, derart—durchaus Un Sinne der herkömmlichen Schulrhetorik!—das "delectare" zum "movere" steigernd. II In Goethes Erzählung seiner Frankfurter Jugenderlebnisse (um die es hier aUeUi noch gehen soU) sinkt eine traditioneUe, historisch überholte Literaturdoktrin gleichsam versteinert zu Boden; die (scheinbaren) Aufbrüche zu neuen MögUchkeiten bleiben aber noch höchst ungewiss, zweifelhaft und in jedem FaU äußerst trügerisch. Aus der Distanz eines halben Jahrhunderts wandte sich der BUck des Autobiographen noch einmal einer Konzeption von Literatur zu, die seither versunken war: der VorsteUung von einer Poesie Un Kontext der Rhetorik. Aber schon 1763/64 war das, worin Goethe seinen Protagonisten sich verstricken Ueß, kaum noch auf der Höhe der Zeit, es war schon damals um ein gutes halbes Jahrhundert verspätet (und vieUeicht Uegt darin einer der Gründe für die zuweüen etwas bemüht anmutende erzählerische Forcierung); gelegentUch schleicht sich sogar der Eindruck ein, die Frankfurter Episoden würden allein deswegen mitgeteUt, um in der persörüichen Geschichte die volle Spannbreite des Jahrhunderts unterzubringen. Dem späteren Leser waren diese Zusammenhänge allenfaUs noch partieU präsent, und wenn überhaupt, dann waren sie extrem negativ besetzt; sie wurden nachgerade als das genaue GegenteU dessen angesehen, was man späterhin—entschieden beeinflusst von Goethe!22— unter "Dichtung" verstehen soUte. Was Karl Goedeke über Christian Weise schrieb, kann man getrost als das UrteU eines ganzen Jahrhunderts über einen ganzen Uterarischen Kontinent nehmen: "Seine an sich nicht ungelenke Sprache verfäUt dennoch nicht selten Ui unbeholfne Steifheit und den Schwulst der Nüchternheit; man glaubt mitunter eher eine in langatmigen Sätzen verkommne Advokatenschrift, als eine Arbeit des Dichters ... zu lesen."23 Goethe beschrieb diese Konstellation—wie gesagt—nicht in Form eines hterarhistorischen Traktats; er stellte den fundamentalen Wandel vielmehr so dar, dass er "suitable for poUte company" erschien; er machte einen Roman daraus. So nahm der spätere Goethe Yearbook 145 Leser die literarhistorischen Ausführungen Un fünften Buch von Dichtung und Wahrheit—wenn überhaupt—nur noch als TeU einer "human interest story" wahr, eben als TeU der "Gretchengeschichte," wobei die poetologische Belehrung über der emotionalen Anteilnahme nur zu leicht seiner Aufmerksamkeit entglitt. Der gelehrte Literarhistoriker müsste also das historisch Versunkene als den sehr weitläufigen "Subtext" des leichtfüßigen Goetheschen Berichts rekonstruieren. In einer solchen Ausrichtung der Lektüre des fünften Buchs begründet dieser Subtext recht eigentUch die Struktur des erzählerischen Haupttexts, so dass er zutreffender als dessen ihn generierende "Tiefenstruktur" zu bezeichnen 24 ware. Der Leser des Jahres 1811 brauchte sich über sein Desinteresse an dieser poetologischen Tiefenschicht der Erzählung und über die daraus resultierende Unkenntnis nicht zu beunruhigen, denn solche Probleme waren mittlerweUe nicht nur Stoff eines anderen (Spezial)Diskurses geworden, der Leser war zudem schon seit langem Ui die Geringsch ätzung und damit Verdrängung dieser Wissensbestände eingeübt. So hatte etwa Herder Ui seinen Briefen zur Beförderung der Humanität über einen der leuchtenden Sterne am frühaufklärerischen Himmel der nach den Prinzipien der Rhetorik organisierten Poesie, über Albrecht v. HaUer (dem er im übrigen positiv gegenüberstand), angemerkt, dieser trage "eine Alpenlast der Gelehrsamkeit auf sich,"25 und SchUler hatte Ui seinem UrteU über ebendesselben berühmte Klageode auf den Tod seiner Ehefrau Marianne diese Distanz, welche die (rhetorische) Gelehrsamkeit zwischen das Sujet und die im Gedicht sprechende Stimme legt, zum Angelpunkt seiner Theorie des "Sentimentalischen" gemacht:26 man finde in Hallers Gedicht die Beschreibung des Seelenzustands zwar "genau wahr, aber wir fühlen auch, dass uns der Dichter nicht eigentUch seine Empfindungen, sondern seine Gedanken darüber mitteüt. Er rührt uns deswegen auch weit schwächer, weU er selbst schon sehr viel erkältet sein musste, um ein Zuschauer seiner Rührung zu sein."27 Es bestand also keinerlei Anlass, das Ãœberlebte noch einmal auferstehen zu lassen. Im übrigen—und auch das zeigen die fragUchen Passagen zumindest andeutungsweise—ging es um mehr als nur um Uterarische Verfahrensweisen ; diese hatten ihren Ort Ui einer umfassenden kultureUen Praxis gehabt. Wenn "Goethe als Kind beginnt, Verse zu verfassen; wenn er mit sechzehn Jahren den WÃœlen bekundet, Autor zu sein, so . . . ist [das] die selbstverständUche Folgerung aus einer küidUch erlebten geselUgen Praxis, Ui welcher die Dichtung ... als Mittel normativer Lebensdeutung gilt."28 Hinter den beschriebenen literarischen Ãœbungen und Gewohnheiten stand am Ende eine ganze Kultur, die Schriftkultur der Frühen Neuzeit.29 Schon dass sich Goethe Ui der RoUe eines schreibenden Lesers vorstellte, gehört in diesen Zusammenhang.30 146 Uwe-K. Ketelsen III Getreu der Devise, dass hier ein Roman zu erzählen sei,31 setzt die DarsteUung Un fünften Buch mit einem Trommelwirbel ein: der Erzähler warnt (oder lockt) den Leser mit der Ankündigung, er werde nun Ui den Abgrund sozialer und moralischer Existenz hineinschauen—und dann bekommt er die (wie sich später zeigen wftd: verunglückte) Initiation eines Schriftstellers Ui der Mitte des 18. Jahrhunderts erzählt:32 Der Vierzehnjährige trifft auf einen früheren Freund, der mit seiner Bekanntschaft zu ihm als einem jungen Poeten gleichsam Un Naturzustand geprahlt hat;33 aufgefordert, seine unglaubwürdigen schriftsteUerischen Fertigkeiten gleichsam öffentUch unter Beweis zu steUen und ein Rollengedicht (nämlich ein Liebesgedicht eines "verschämten jungen Mädchens") zu verfassen, ziert sich der federgewandte Jungpoet zunächst (konventioneüerweise) ein wenig, zeigt am Ende aber doch sein (wie es Un zeitgenössischen Redestil heißen würde) "munteres," "aufgewecktes," "entzündetes" NatureU, setzt sich auf eine Bank und "faßte ... die [von dem Ungläubigen vorgegebene] Situation Ui den Sinn und dachte. . ., wie artig es sein müßte ..." (WA 1.26:263). Binnen kurzem hatte er seinen Text fertig und die Probe bestanden. Wäre ein Leser dieser Episode in der einschlägigen poetologischen Literatur noch belesen genug gewesen: er hätte schneU bemerkt, dass die scheinbar so zufäUige Anekdote auf einer einstens wohlbekannten FoUe aufruhte, auf einer Geschichte, wie sie buchstäbUch Un Buche stand, etwa Ui Martin Opitzens Von der Deutschen Poeterey aus dem Jahre 1624. Dort wftd mit Berufung auf Ovid davon gesprochen, dass dem Uterarischen Handwerk eine "natüriiche regung . . . / welche Plato einen Göttlichen furor nennet," vorausgehe.34 Diese Auffassung war noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine so gängige Münze, dass etwa 1748 ein schaler Gelegenheitsdichter namens Chr. J. Eisenhart Ui einem massenkonfektioneUen Casualcarmen verlauten lassen konnte, wahre Dichtung stamme "aus der Natur geheimen Gaben,"35 ohne befürchten zu müssen, durch poetologische Originalität die Norm gängiger Anschauungen zu verletzen. Diese Gabe der Natur zu besitzen, prätendierte der Knabe hier also, wenn er sich als Spontandichter Ui Szene setzte. Und auch des weiteren machte der Proband das, was 1763/64 zwar nicht mehr ganz au courant war, was aber Skribenten dieses Zuschnitts dazumal landauf, landab Ui einer solchen Situation doch noch taten und was die (aUerdings ein wenig veralteten) Hand- und Lehrbücher für diesen FaU anrieten: den "casus" üis Auge fassen, die Gelegenheit beherzt beim Schöpfe packen, eine "inventio" suchen und über "dispositio" wie "elocutio" usw. schUeßUch mit "fliegender Feder" (auch das ein Topos) zu einem Text kommen.36 Diese Arbeitsschritte waren seit den Tagen von Opitzens Poeterey auch auf Deutsch geläufig, beginnt doch deren praktischer TeU mit der Kapitelüberschrift: "Von der zuegehör der Deutschen Poesie / vnd erstlich von der invention oder erfindung" usw.37 Der Knabe war schon— wie der Erzähler viel früher mitgeteUt hatte—in dererlei "Wissenschaft" Goethe Yearbook 147 wohl instruiert worden: "In rhetorischen Dingen, Chrien und dergleichen tat es mir niemand zuvor . . ." (WA 1.26:46). Wie, um deutUch zu machen, Ui welchem Maße eine solche Kunst- übung noch Ui die kultureUe Praxis der Jahrhundertmitte geläufig gewesen sei,38 spiegelt der Erzähler zwölf Bücher später die Episode Ui einer leicht verschobenen Konfiguration noch einmal. Kurzfristig sei er— so berichtet er—noch einmal als Gelegenheitsdichter engagiert worden, nämUch aus Anlass des 17. Geburtstages von LUi Schönemann, am 23. Juni 1775.39 Die Situation erweist sich als ähnUch prekär; der nun nicht mehr ganz so junge und unerfahrene Poet lässt sich noch einmal in eine Geschichte verwickeln, die mit der früheren eine gewisse AhnUchkeit aufweist: wieder bekommt er einen Auftrag, dieses Mal von LUi, wieder wftd ein Vermittler eingeschaltet, nämUch deren Bruder Jakob Georg, wieder geht es darum, mit Hufe der Poesie überzeugend falsche Tatsachen vorzuspiegeln, dieses Mal eine Kaprice der jungen Frau, wieder fühlt sich der Federgewandte geschmeichelt: "mit sonderbarer SelbstgefäUigkeit," so berichtet der Gealterte, sei er damals die Sache angegangen, und wieder verweist er darauf, dass er seine schriftsteUerischen Fertigkeiten für heteronome Zwecke habe in Dienst nehmen lassen: er sei "mit dem frohen freien Gefühl" ans Werk gegangen, "daß hier Gelegenheit sei [sich] als ihren [Luis] Diener auf eine glänzende Weise zu zeigen . . ." (WA 1.29:51). Und wieder hat er voUen Erfolg, und wieder endet die Angelegenheit schUeßUch anders als gehofft (wenn auch nicht mehr ganz so dramatisch wie seinerzeit). AUerdUigs täuschte 1763 wie 1775 der glatte Erfolg der Demonstration , und dem talentierten Jüngling drohte—wie der alte Goethe mitteUt—Ungemach, und wer seinen ganzen Opitz noch im Kopf hatte, der ahnte zumindest einen der Gründe dafür, hieß es doch beim "Vater der deutschen Poesie": "Ferner so schaden auch dem gueten nahmen der Poeten nicht wenig die jenigen / welche mit jhrem vngestümen ersuchen auff aUes was sie thun vnd vorhaben verse fodern. . . . Dieser begehret ein Lied auff eines andern Weib / jenem hat von des nachbaren Magdt getrewmet... ja deß närrischen ansuchens ist kern ende. Müssen wir also entweder durch abschlagen jhre feindschafft erwarten / oder durch wUtfahren den würden der Poesie einen mercklichen abbruch thun."40 Dem antwortete noch über ein Jahrhundert später—freUich deutUch höher gestimmt—Klopstock,41 wenn er in einem Gedicht Urania den Versuch des Dichters abwinken lässt, sich Un "SUberton" eines Epithalamions zu versuchen: "Singe," sprach sie zu mir, "was die Natur dich lehrt": Jene Lieder hat dich nicht die Natur gelehrt. . . .42 In Goethes Bericht kommt der Würde der Poesie aber keine mythologische Urania zu Hilfe. Im StUe seines "theorietransparenten ReaUsmus" lässt der Erzähler die bedrohüchen Wolken aus einer anderen Ecke heraufziehen; oder anders gewendet: bei Goethe heißt Urania Gretchen, bzw. aufs Ganze betrachtet: sie scheint Gretchen zu heißen. Persönliche Eitelkeit lässt den vom Erfolg betörten jugendUchen 148 Uwe-K. Ketelsen Schnelldichter zustimmen, dass sein Produkt Ui Zirkulation komme, und einmal Un Zuge, verfasst er später mit gleich leichter Hand noch ein Erwiderungsgedicht. Damit tappt er in eme der FaUen, die auf dem vormodernen, durch kernen Begriff von Autorschaft gesicherten Markt aufgesteUt waren: aufgrund seines eitlen Einverständnisses entgleitet der Text bis zu einem gewissen Grade nämUch seiner KontroUe. Indem die "Freunde" sein Produkt mit versteüter Hand abschreiben und als die schmachtende Epistel eines freudig bewegten Mädchens ausgeben, das von einem weiteren Mitglied der Gruppe aus der Entfernung angebetet wftd, erhält es—was aUerdings im Kontext der Casualpoesie, Ui der Verfasser und Suplikant nicht identisch sein müssen, nichts UngewöhnUches ist—einen neuen Urheber und (was entscheidend ist) damit eine neue Bedeutung. Auf diese Weise nimmt die Geschichte eme Wende, und zwar zum Schlechteren. Der Grund dafür ist kern eigentUch poetologischer (weswegen auch kerne der metaphorischen Musen bemüht zu werden braucht) sondern ein soziokultureUer. Die Figuren, welche die Gretchenepisode bevölkern, sind deutUch sozial markiert;43 sie verdienen ihr Brot—wie der Erzähler ausdrückUch ausmalt—auf eine Art und Weise, die sich merldich von jener der "gebUdeten Stände" unterscheidet, und damit geht Urnen eine (wie wft heute sagen) Kompetenz ab, die für die Kultur konstitutiv gewesen ist, aus der die Ãœbung stammt, der die Jünglinge hier frönen: die Fähigkeit, des überaus starken ritueUen Gepräges poetischer Formen, des Kunst- und d.h. des Spielcharakters literarischer Kommunikation eingedenk zu sein44 und entsprechende Verhaltensweisen, z. B. AffektkontroUe , zu entwickeln.45 Sie verletzen, bzw. sie beherrschen nicht den kommunikativen Komment des galanten "als ob." Was dem jungen Verseschmied ein zunächst ehrgeiziges, dann etwas langweüiges Fingerspiel gewesen war, das verschob sich bei den GeseUen "um der Lust und des Gewinns wUlen" (wie Gretchen meint [WA 1.26:270]) und bei dem Düpierten aus eitler Dummheit. Indem sie den Status des 'als ob' aufhoben und den imaginierten Verfasser "roh" Ui einen realen verwandelten, semantisierten sie den Text um: aus einer galanten Epistel, Ui welcher, wie Benjamin Neukirch dekretiert hatte, "man entweder eine Liebe simuUert; oder eine wahrhafftige so schertzhafft und galant fürbringet, daß sie die lesende person für eine versteUte halten muß,"46 wurde eine (noch dazu gefälschte) Herzensergießung.47 Und damit schlägt die Stunde Gretchens! Erst jetzt, wo sie Un poetologischen "Tiefendiskurs" gebraucht wird, übernimmt sie eine aktive RoUe Ui der erzählten Geschichte (vorher war sie ledigUch charakterisierend , d.h. recht eigentlich: typisierend Ui das Ensemble der Figuren eingeführt worden). Auf den ersten BUck scheint sie ihre Existenz der Lektüre empfindsamer Romane zu verdanken, oder sie scheint aus einer entsprechenden IUustration Daniel Chodowieckis gestiegen zu sein; Ui ihrem Erscheinungsbüd stellt sie ein Kind jenes imaginären "Volkes" vor, das ein GegenbUd zu diesem realen "niederen Stande" abgeben sollte, dem die jungen Leute zugerechnet werden müssen, mit denen der junge Poet hier unstandesgemäß (wie Gretchen ihm auf den Kopf zusagt) Goethe Yearbook 149 Umgang pflegt: sie hält nicht nur ihren Lebensraum "reinUch und ordentUch" (WA 1.26:266), sie ist auch von "unglaubUcher Schönheit," ihr "Häubchen saß so nett auf dem kleinen Kopfe, den ein schlanker Hals gar anmutig mit Nacken und Schultern verband" (WA 1.26:266), und was mehr der Versatzstücke dieser Uterarischen Figur sind. Zudem ist sie— versteht sich—moralisch, oder sie scheint es zumindest. Dem Leser, der der von Goethe erzählten Geschichte gedankUch vorauseüt, könnte sie als eine vorzeitige Verkünderin von "Naturpoesie, " von "Ausdruckskunst, " von "Erlebnislyrik" erscheinen, als eine Rückprojektion späterer Uterarischer Konzepte, unter deren guten Stern der Autor sein jugendliches Selbst hier vorausschauend zu steUen scheint. Dem ist aber nicht so; der Sehern trügt! So vehement Gretchen dem jungen Dichter auf soziokultureUen Abwegen ins Gewissen redet— Goethe lässt sie doch nicht als ein Gegenkonzept zur Auffassung einer rhetorisch fundierten Poesie auftreten. Die Gretchenfigur verlässt nicht deren Geltungskreis. Goethe lässt sie vor aUem nicht an den Kern- und Drehpunkt einer jeden rhetorischen Konzeption rühren: an die Wirkungsabsicht des Literaten, an die Adressatenbezogenheit seines Produkts. Für den Redner (und das heißt dann auch, für den ihm folgenden Poeten)—so zitierte zustimmend Christian Thomasius eine einprägsame Maxime Balthasar Graciáns—gelte, was für den Koch gut: dieser müsse sehen, dass er den Geschmack seiner Gäste treffe, nicht seinen eigenen.48 An dieser Devise lässt Goethe sein Gretchen nicht zweifeln: "Nur schade, dass es [das fragliche Gedicht] nicht zu einem bessern, zu einem wahren Gebrauch bestimmt ist." Zwar zum wahren Gebrauch, aber eben doch zum Gebrauch. Ansonsten diskutiert sie überhaupt nicht mit Uterarischen Argumenten, nicht einmal mit Uterarhistorischen (indem sie etwa den stolzen Musensohn auf die Fixsterne am Uterarischen Himmel der frühen 60er Jahre verwiese, auf Geliert z.B., auf Gleim, Kleist oder Klopstock) oder gar mit Uteraturtheoretischen (indem sie etwa die von SchUler an HaUer beobachtete affektive Distanz ins Spiel brächte). Goethe lässt sein Gretchen überhaupt nicht mit literaturinternen Argumenten streiten, das gestattet er aUenfaUs seinem jungen Double, den die Wiederholung desselben Themas bald anekelt (was freUich Ui diesem Kontext überhaupt kern Argument sein konnte) und der plötzlich und unmotiviert von einer Schreibblockade befaUen wird. Durch Gretchens Mund bringt der Erzähler Argumente ganz anderer als poetologischer Herkunft ins Spiel. Zum einen greift er mit ihrer Hilfe noch einmal die kultursoziologische Dimension auf, indem er sie darauf verweisen lässt, dass der junge Poet aus "gutem Hause" stamme (WA 1.26:270) und es mit der AffektkontroUe seiner Freunde zweifelhaft besteUt sei. Zum andern argumentiert das Mädchen moraUsierend; sie findet den "Scherz" mit dem fingierten Liebesbriefwechsel "nicht unschuldig,"49 ja, sie spricht Ui diesem Zusammenhang sogar von einem "Frevel" (WA 1.26:270). Folgerichtig beschwört sie den jungen Dichter, die so glatt, wenn auch Ãœlusionär laufende Uterarische Kommunikation ganz abzubrechen. '"Glauben Sie mir,' versetzte sie, 'und ändern ihn [den Brief] nicht um; 150 Uwe-K. Ketelsen ja, nehmen Sie ihn zurück, stecken Sie ihn ein, gehen Sie fort . . .'" (WA 1.26:270). Das wären nun aUerdUigs einigermaßen trübe Aussichten für die Poesie: Gerade dort, wo sie gelingt, wo sie den Betfall der Beteüigten findet, wo sie den Effekt, auf den sie zielt, perfekt erreicht, da soU sie ihre Existenzberechtigung verUeren; aUenfaUs Ui den besseren Ständen (die— so untersteht Gretchen, wie sich sogleich zeigen wird: ungerechtfertigterweise —mit dem poetischen "als ob" umzugehen wissen) und unter der Kuratel der Moral mag sie ihr Dasein fristen! rv So gelesen, beschäftigt sich das fünfte Buch nach diesem kompakten Eingang mit nichts anderem mehr als dem (vergebUchen) Versuch, der Lähmung durch diese paradoxale Situation zu entkommen. Der erste Versuch, diese KonsteUation zu überwinden, ist zugleich der deprimierendste und wftd auf der Erzählebene von Goethe mit den fatalsten Folgen belegt. Er verschiebt die bisherige KonsteUation nur ein wenig und unterwirft Gretchens erste Kautele, die soziokultureUe, einer Prüfung. Der junge, mittlerweUe für seine Kritikerin heftig entbrannte Poet setzt jene "Mystifikation" fort, die nach Meinung des Erzählers "eine Unterhaltung für müßige, mehr oder weniger geistreiche Menschen" (WA 1.26:265) ist und bleibt, eben eine Kinderei—nur dass an die Stehe des Trugs nun die Illusion tritt: Der "poetische Sekretär" des düpierten Liebhabers düpiert jetzt sich selbst, indem er Gretchen an die Stehe der imaginierten Schönen setzt und sich selbst an den Platz des getäuschten Adressaten;50 Gretchen beglaubigt diesen Akt der Selbst-Täuschung, der Selbstmystifikation, indem sie—wenn auch lächelnd und zögernd—den rem formal durchaus gelungenen Text51 mit ihrer Unterschrift unter die kindisch-Ulusionäre Umwidmung zu beglaubigen scheint. Die Strafe für diesen rückhaltlosen Abstieg unter sein soziales und damit kultureUes Niveau steUt sich prompt ein: der Jüngling verliert die KontroUe über seine Affekte; er kannte sich "nicht vor Entzücken, sprang auf und woUte sie umarmen.—'Nicht küssen!' sagte sie; 'das ist so was Gemeines; aber heben, wenn's mögkch ist'" (WA 1.26:271). Diese Erinnerung an standesgemäßes Verhalten reicht dem Erzähler indes noch nicht aus; um das Verhalten des hitzigen Poeten Ui den Augen des Lesers zu desavouieren, lässt er diesen zudem die berühmte Werther-Lotte-Szene in einer platten Parodie nachspielen (oder vorwegnehmen, je nachdem, von welcher Seite man die Geschichte Uest)! Die erschUchene Eliminierung des "als ob" Un Konzept rhetorischer Poesie, die "Ausdruck" an die SteUe von "Wirkung" "mystifiziert" und den jugendlichen Liebhaber die falsche amouröse Epistel am wahren Busen tragen lässt, diese erpreßte Löschung der kultureUen Signatur Un Konzept der rhetorisch orientierten Poesie zieht die Kette von Widrigkeiten der—Un übrigen etwas dunklen—Krimüialgeschichte nach sich. Es kann Un Falschen am Ende kein Wahres geben.53 Goethe Yearbook 151 So ist denn auch die Figur des Gretchens kerne über den Verdacht erhabene Kommentatorstimme, gleichsam eine SteUvertreterin des Erzählers im Text; sie ist und bleibt eine Person Ui der Konfiguration und damit perspektivisch gebunden; die RoUe des Kommentators Uegt aUeUi beim auktorialen Erzähler (wenn das für einen "Ich-Erzähler" nicht ohnehin fast selbstverständUch ist). Obwohl Gretchen mit aUen Attributen eines empfindsamen Mädchens eingeführt wird, wird sie nicht nur wegen ihrer etwas zwetfeUiaften Beglaubigung des simuUerten Gefühlsausdrucks aUzu bald vom Schatten eines Verdachts gestreift, der Erzähler rückt sie auch im Hinblick auf den sozialen Rahmen, Ui dem sie agiert, Ui ein bedenkliches Licht. Lässt er sie zunächst nur Ui der Kirche den öffentlichen Raum betreten, so weitet sich ihr Aktionsradius bald auf eine—wie er findet—bedenkUche Weise. Das Mädchen tritt nämUch bei einer Putzmacherin Ui Lohn und betritt damit einen unter sozialen wie moraUschen Aspekten zweifelhaften Ort: es handele sich um einen "öffentlichen Laden," noch dazu um einen Ort, "wo die galante Welt gelegentUch ihren Sammelplatz hatte" (WA 1.26:285).54 Der Fortgang der Handlung wftd diese Ahnung bestätigen und Ui Hinsicht auf Gretchens Reputation noch Schlimmeres bringen. Den Weg, der den jungen Mann Ui dieser Situation hätte als Dichter einen erhebUchen Schritt weiterbringen können, lässt der Erzähler seinen entflammten Jungpoeten nicht finden: die Duplik, über der seine glatte Feder ins Stocken gerät, "Un eigenen Namen" zu verfassen—aber dann hätte es überhaupt kerne Duplik sein dürfen! So 'mystifiziert' er sich immer nur weiter in fremde (wie der Leser später Un sechsten Buch dann auch noch erfahrt, vorgetäuschte) Gefühle hinein, von denen er wünscht, sie möchten ihm gelten. Folgüch bleibt ihm Ui der Tat nur die FeststeUung: "Es wül nicht gehen!" (WA 1.26:269). Sie reicht aUerdings weiter, als er weiß. Auch der zweite Versuch, die paradoxale Situation zu überwinden, Ui der Goethe das Konzept einer auf die Rhetorik gegründeten Poesie gefangen sieht, fällt nicht eben glücklich aus. Der Autor erweckt den Eindruck, als woUe er die Inspektion der Lage einigermaßen systematisch durchführen und bis ans bittere Ende bringen; er wirft nämUch auch einen BUck auf die für die Casualpoesie so wichtige ökonomische Seite und spinnt die Fäden seiner Erzählung entsprechend fort. Schon dass wiederum die "Freunde" (und jetzt auch Gretchen) diese Episode anstoßen, verheißt nichts Gutes. Während der junge Poet noch über die Verdrießlichkeiten des Lebens barmt (er findet keinen plausiblen Grund, Gretchens Nähe zu suchen), haben sie schon eme neue und—wie sie meinen—nützlichere Verwendung für seine Fähigkeiten gefunden: sie ökonomisieren sie! Angesichts der kultureUen Praxis der Zeit war das keine sehr ausgefallene Idee, wenngleich die große Zeit für derlei Geschäfte mittlerweile vorbei war. Dank ihrer—standesbezogenen!— Beziehungen kommt der Handel auch soweit Ui Schwung, dass die Gruppe mit dem Ertrag ihre (frugalen) Freizeitbelustigungen in Niederrad auf der anderen Mainseite, ja sogar eine Schiffspartie nach Höchst bestreiten kann. (Auf dieser Reise beginnt bezeichnenderweise auch das 152 Uwe-K. Ketelsen Unglück seinen eigentlichen Lauf zu nehmen, indem der gutgläubige JüngUng dabei einen—wie sich später heraussteUt—betrügerischen jungen Mann kennenlernt, der durch seine Protektion Gelegenheit bekommt, öffentUchen Schaden anzurichten.) Auch hier setzt die AffektkontroUe aus. Dabei ist es nicht die Aussicht auf finanziellen Gewinn, die den JüngUng antreibt (das wäre angesichts der fortgeschrittenen Ökonomisierung des Uterarischen Marktes um 1800 auch kern sehr überzeugendes Argument gewesen), es ist wiederum (außer der Chance, Gretchen nahe zu sein) ehrgeizige Eitelkeit, die ihn bewegt: er hatte "schon von Jugend auf die Gelegenheitsgedichte. . . mit einem gewissen Neid betrachtet..." (WA 1.26:274). Dazu kam noch die unwiderstehUche Verlockung, sich gedruckt zu sehen. Und schon fließen die Verse wieder.55 Der Erzähler malt seine Betrachtung der Professionalisierung des poetischen Schreibens überraschend breit aus, indem er noch eine andere Seite davon Ui die Episode, man ist versucht zu sagen, einflickt. Da sich heraussteUt, dass sich der Geschäftsgang doch einigermaßen schleppend entwickelt, schlüpft der (ausgebeutete) Autor auch noch Ui die RoUe des Lehrers. Wie ein zeitgenössischer Professor Poesis vermittelt er einem interessierten MitgÃœed der Gruppe das einschlägige handwerküche Wissen. Aber nicht nur, dass ihm die Mühen des Lehrens nichts einbringen, er sich Un Gegenteil noch einen möglichen Konkurrenten auf dem Markt heranzieht: er muss überdies erfahren, dass der Erfolg einer solchen Vermarktung von Wissen und Fertigkeiten nicht so sehr von den eigenen Bemühungen abhängt sondern entschieden von den Fähigkeiten des Schülers. Da diesem das aUer Kunst vorausUegende Talent fehlt, muss der Lehrer die Ãœbungsstücke am Ende selbst ins rechte Lot bringen! Aber auch das Hauptgeschäft florierte nicht recht; Un GegenteU, einer der Kunden verweigerte die Annahme (und damit selbstverständUch auch die Bezahlung), obwohl die Lieferanten dieses Produkt für ihre beste Arbeit hielten. SchUeßUch war die GeseUschaft angesichts der mangelhaften Auftragslage sogar gezwungen, nur noch für eine fingierte KUentel zu arbeiten! So endete auch dieser Versuch Ui einer "Mystifikation," und da der Erzähler seine Protagonisten kerne Marktpflege betreiben lässt, kann er diese Darlegung der ökonomischen Seite des Vorgangs mit der nüchternen Bemerkung abschließen, dass die "kleinen Gelage" nunmehr noch mäßiger einzurichten gewesen seien als ohnehin. Diese Erfahrung war aUerdings kerne neue, sie wurde von vielen Reimschmieden des 18. Jahrhunderts geteUt: Wenn das Schreiben von Gelegenheitsgedichten nicht dazu führe, dass es den Zugang zu einem Amt eröffne, so meinte bereits 1725 ein Kenner der Materie, dann sei "dabey wenig gewonnen, oder [der Poet] Ui großer Armuht verstorben, und [habe] eine hungerige Wittib und Kinder hinter sich gelassen. . . ."56 So ist denn im weiteren Verlauf der Erzählung von solchen Versuchen auch nicht mehr die Rede. Selbst von seiner ökonomischen Seite her, so das fabula docet, rechtfertigt sich das fragUche Konzept von Poesie nicht. Mit dieser FeststeUung stößt Goethes "Roman" eines jungen SchriftsteUers an den Rand des Un engeren und eigentUchen Sinn casual- Goethe Yearbook 153 poetischen Konzepts. Aber auch die beiden weiteren Versuche, die der Erzähler Ui der Tiefenschicht seines Lebensberichts durchspielt, um für seinen Protagonisten einen Ausweg aus der misslichen Lage zu finden, bleiben zumindest Un Horizont des bisher Behandelten. Sie wechseln aUerdings das Genre und berühren damit zumindest lose breitere Uteraturtheoretische Zusammenhänge.57 Der dritte Versuch des Erzählers, die paradoxale Situation aufzuheben, Ui der er semen Skribenten historisch gefangen sieht, knüpft konzeptioneU wie thematisch an den vorausgehenden an, was auch darsteUungsökonomisch betont wftd, indem beide paraUel erzählt werden. Um die flaue Zeit zu überbrücken, arbeiten die "Freunde" zur gegenseitigen Unterhaltung, aber auch mit dem Ziel, Lebensorientierungen zu gewinnen, ihre partieUen AUtagserfahrungen zu Entwürfen von Biographien um, und da es sich um—wie der Erzähler sagt— "gewöhnUche Menschen" handelt (WA 1.26:275), folgen ihre Träume von der eigenen Zukunft mehr oder minder den aufsteigenden Linien von TeUerwäschergeschichten. Wenn sich der junge Mann aus gutem Haus an dieser absichtsvoUen KurzweU überhaupt auf eine seine Zuhörerschaft interessierende Weise beteüigen wUl, dann muss er notgedrungen eine "als-ob-Geschichte" erfinden. Und genau dazu wird er aufgefordert: er solle seine geseUschaftlich privilegierte SteUung vergessen und ein "Märchen" erzählen, in dem er eine Figur gleichsam von ihrem "Schrot und Korn" abgebe. Das wäre eine—wenngleich heikle—Chance gewesen. Aber der JüngUng versucht auch jetzt das "als ob" zu minimaUsieren und "mystifiziert" sich in eine "hypothetische Lebensgeschichte" (WA 1.26:277) hinein, Ui der er als Gelegenheitspoet (gegen aUe Erfahrung) so viel Ertrag zu erwirtschaften gedenkt, dass er eine Frau davon ernähren kann, die (selbstverständUch) "Gretchens voUkommnes EbenbUd" ist (WA 1.26:278). Auch bei diesem Versuch schmilzt also das "als ob" Ulusionär zusammen, so dass sein 'Märchen' "einen Anschein von Wahrheit und MögUchkeit [gewinnt], dass ich mich selbst einen Augenblick täuschte, mich so abgesondert und hülflos dachte, wie mein Märchen mich voraussetzte . . ." (WA 1.26:278). Der Text bleibt ob dieser literarischen Leistung ganz stumm, er gibt kernen Kommentar dazu, es sei denn, die schweigende Aufmerksamkeit Gretchens, die ihre Laufbahn als Putzmacherin ja schon vor ihrem inneren Auge hat, könnte als solcher gelten. Im Verlauf der weiteren Erzählung ist von diesem Versuch, die Grenzen zu durchbrechen, welche die Poetik der rhetorischen Poesie um die Produktivität des Protagonisten zieht, denn auch so wenig mehr die Rede wie von den anderen vorausgegangenen. Obwohl der Erzähler auch den vierten Versuch mit Hilfe der Verflechtung der Erzählstränge an das Bisherige anzubinden versucht, scheint dieser doch von den vorherigen eher abgekoppelt; die Schüderungen von der Kaiserkrönung sprengen ohnehin fast die Ökonomie des fünften Buchs. Im Zusammenhang mit dem ausufernden Bericht über die FeierUchkeiten bekommt der junge Poet aber nochmals eine Chance, als Produzent von (schriftUchen und mündUchen) Texten aufzutreten. Der poetologische Subtext wird Ui diesen Passagen freiUch immer schmaler, 154 Uwe-K. Ketelsen und es könnte Schemen, als hätte der Erzähler die Uterarischen Probleme aus dem Auge verloren, wenn er sie am Ende des fünften und zu Beginn des sechsten Buches nicht noch einmal entschieden aufnähme. Welchen Status die Krönungsereignisse Ui der Wahrnehmung des Jünglings (und wohl auch des Erzählers) haben, wftd gleich zu Beginn dieser Passage deutUch: Während des Aktenstudiums zur Kaiserwahl und kr önung, zu welchem der Vater seinen Sohn anhielt, spukte diesem "das hübsche Mädchen, bald in ihrem Hauskleid, bald Ui ihrem neuen Kostüm [als Putzmacherin] immer zwischen den höchsten Gegenständen des HeUigen Römischen Reichs hin und wider" Un Kopf herum (WA 1.26:284). Damit rücken die Zeremonien von 1764 Ui denselben Bereich der Projektionen wie das Mädchen (und sie werden—etwa mithilfe der Figur des preußischen Gesandten von Plotho oder Ui der Beobachtung der Anachronismen Ui der zeremonieUen Ausstattung der Akteure—genauso depotenziert). Die vom Vater veranlasste Kanzlistentätigkeit brachte dem Sohn "geheimes MißfaUen" (WA 1.26:290), dadas Auseinanderklaffen von poUtischer ReaUtät und zeremoniellem Sehern nur zu offensichtUch war; mit anderen Worten: ein "als ob" im falschen Diskurs, und es—wie er am schlechten Beispiel Lavaters demonstriert—in den zuständigen zu übertragen, verwirft der Erzähler zumindest Ui Hinsicht auf diesen Gegenstand als eine Travestie. Aber zumindest kann der neue Abälard sein erworbenes kultureUes Kapital Ui ein soziales umwandeln, indem er sich bei Gretchen (und ihren "Vettern") als Kenner Ui Estime setzt. Seme, wie der Erzähler kommentiert, selbstgenügsame "Textarbeit" beschränkt sich aUerdings darauf, für Gretchen mimetische BUder von dem pittoresken, "altertümUchen" (WA 1.26:299) Treiben zu malen, für die er am Ende sogar mit einem (wie sich dann zeigen wird: beziehungsreichen) Kuss auf die Stirn belohnt wftd. Der Einbruch der dubiosen Kriminalstory setzt auch diesem mageren und aus gutem Grund nur referierten, aber nicht vorgesteUten Versuch, Uterarisch produktiv zu werden, ein Ende: Die anschüeßende behördUche Untersuchung scheint zunächst eine grundsätzüche Wende zu bringen, indem sie einen Akt der Entmystifizierung initiiert—aber sie reizt Un Gegenteil nur zu düsteren Phantastereien des Protagonisten, der nur "Unglück auf Unglück" sieht (WA 1.26:339); seine ganze "Erfindungsgabe ," seine "Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen" (WA 1.26:340). Allerdings gewannen die Phantasmagorien "Ui der tausendfachen imaginären Vervielfältigung" des eUigebÃœdeten Elends dieses Mal "Lebensmacht," wenn auch nur eine zerstörerische, denn sie drohten, "Leib und Seele Ui eine unheUbare Krankheit zu verwickeln" (WA 1.26:341). Nach der überstandenen Krise roUt der Erzähler das ganze Panorama noch einmal auf, und fügt mit dieser AufheUung seinem Protagonisten eine tiefe narzisstische Kränkung zu. Nicht nur hatte sich mittlerweile Gretchens Unschuld herausgesteUt (warum hat sie dann aber die Stadt verlassen?), sie hat auch den für sie enthusiasmierten Poeten von aUem auf ihm ruhenden Verdacht gereinigt, indem sie amtlich zu ProtokoU gegeben hat, sie habe ihn noch für ein Kind angesehen (als einen Goethe Yearbook 155 Säugling, wie dieser masochistisch steigert); damit wirft sie selbstverst ändUch auch ein Licht auf seine kindischen poetischen "Mystifikationen." Und das hat sie auch noch mit ihrer Unterschrift beglaubigt—aber, was bedeuten Ui diesem Umfeld jetzt noch (vieUeicht auch lächelnd und zögernd gegebene?) Unterschriften! Am Ende, so das Facit des Subtextes unter der bewegten Geschichte, die das fünfte Buch "suitable for poUte company" erzählt, eröffneten sich nach Goethes Einschätzung Ui der Mitte des 18. Jahrhunderts aus der Konzeption einer auf einem rhetorischen Regelwerk aufruhenden, auf ihre kommunikativen Strukturen fixierten und auf ihren soziokultureUen Rahmen bezogene Poesie kerne "Wege nach Weimar," so wenig wie sich vom alten Römischen Reich deutscher Nation ein Weg Ui die Staatenwelt des 19. Jahrhunderts eröffnete. Dass der Protagonist Ui ihrem Zusammenhang sprachUche Fertigkeiten und Uterarisches Wissen erworben hat, das Ui seiner Zukunft als Dichter von Nutzen sein kann, steht auf einem anderen Blatt, und der Autor scheint das zu wissen, wenn er das Gretchen bis Uis siebte Buch hinein gegenwärtig hält. Ruhr-Universität Bochum ANMERKUNGEN 1. Johann Wotfgang Goethe, Campagne in Frankreich, MA 14.395. 2. Johann Woftgang Goethe am 14 April 1822 an Sulpiz Boisserée, WA 4.36:16, vergl u.a. auch Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, GA 9:294f. 3. Thomas P. Same, Black Bread—White Bread: German IntellectuaL· and the French Revolution (Columbia, SC: Camden House, 1988) 204. 4. Johann Woftgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, 7. Buch (WA 1.27:71). 5. Stuart Atkins, "Goethe and the Poetry of the Renaissance," in: St. A., Essays on Goethe, hrsg. v. Jane K. Brown u. Thomas P. Saine (Columbia, SC: Camden House 1995)92-117. 6. Vgl. Carl Hammer, Goethes Dichtung und Wahrheit, 7. Buch, Literaturgeschichte oder Bildungserlebnis? Versuch einer kritischen Wertung (Urbana: U of Illinois P, 1945). 7. Johann Woftgang Goethe, Maximen und Reflexionen (WA 1.42.2:122). 8. Vgl. etwa den emphatischen Lobpreis Ernst Beutlers Ui Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche (Zurich: Artemis 1948) 10:919f 9. Vgl. Gigû Tanaka, Gête no Gurêtchon. Kêtohen taiken no imôto eihyô, Kurume daigaku ronsô 31/2 (1982): 155-79. 10. Vgl. EmU Staiger, Goethe (Zurich: Atlantis, 1952) 1:32. 11. Vgl. G. H. Lewes, Goethes Leben und Werk (Stuttgart: Carl Krabbe, 1903) 1:2912 . Vgl. exemplarisch: Benedikt Jeßing u.a. (Hrsg.), Metzler Goethe Lexikon (Stuttgart: Metzler, 1999) 208. 13. Vgl. Nicholas Boyle, Goethe: Der Dichter in seiner Zeit (Munich: Beck, 1995) 1:77. 14. Erwartungsgemäß greift K. R. Eissler, Goethe: Einepsychoanalytüche Studie 1775-1786 (Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1995) 2:1357-67, die 156 Uwe-K. Ketelsen Episode auf; er deutet sie auf unentschiedene Weise, u.a. als eine Urszene m der psychosexueUen Entwicklung G.s, die gleichsam die Matrix für seme Beziehung zu Frau v. Stein abgibt. Zumindest verbindet Eissler aber das (anderweitig getrennt behandelte) sexueUe Motiv mit dem Uterarischen, wenn er Literatur getreu dem psychoanalytischen Verfahren als Medium einerseits der psychischen Simulation (Ui Hinsicht auf die Gretchen-Figur) und andererseits der Verschiebung (in Hinsicht auf Goethes Beziehung zu Frau v. Stein) sieht. 15. Auch Wulf Segebrecht, Das Gelegenheitsgedicht: Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik (Stuttgart: Metzler, 1977) 289-99, berührt die Passagen im fünften Buch nur ganz knapp (290); Un Mittelpunkt seiner Ãœberlegungen steht—freüich mit einem anderen Interesse—die ClodiusEpisode im 7. Buch. 16. Karl Otto Conrady, Goethe: Leben und Werk (Königstem/Ts. : Athenäum, 1982) 1:42. 17. Karl Viëtor, Der junge Goethe, neue Ausgabe (Munich: Leo Lehnen, 1950) 5. 18. Ebd., 7 (Durchaus vergleichbar: MeUtta Gerhard, Auf dem Wege zu neuer Weltsicht: Aufsätze zum deutschen Schrifttum vom 18. bis zum 20.Jahhundert [Bern: Francke, 1976] 12-15). 19-WA 1.27:88, 110, 113. 20. Goethe selbst zog u.a. Karl August Küttner, Charaktere teutscher Dichter und Prosaisten (Berlin: Voß, 1781); Erwin JuUus Koch, Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen (Berlin: Verlag der Buchhandlung der KönigUchen Realschule, 1795-1798); Georg Schatz u. Johann Georg Dyck, Charaktere der vornehmsten Dichter aller Nationen (Leipzig: Dyk, 1792-1803); Johann Georg Meusel, Lexikon der vom Jahre 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller (Leipzig: Fleischer, 1802-1816); Karl Heinrich Jördens, Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten (Leipzig: Weidmann , 1806-1811), zu Rate, die er sich aus der Weimarer Bibkothek ausUeh. 21. Vgl. Uwe-K. Ketelsen, [Goethes] "Frühe Lyrik. 1767-1770," in: Regine Otto u.a., Hrsg., Goethe Handbuch, Bd. 1: Gedichte (Stuttgart: Metzler, 1996): 32-44. 22. Vgl. Heinrich Henel, "Erlebnisdichtung und SymboUsmus," DVjS 32 (1958): 71-98. 23. Karl Goedeke, Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen (Dresden: Ehlermann, 1887) 278. 24. Das methodische Problem, eine Vermittlung zwischen den ZufälUgkeiten der Lebensgeschichte und der "Logik" der Tiefenschichten zu denken, ist im thematisierten Zusammenhang von geringerem Interesse. 25. Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Achte Sammlung, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan (Berlin: Weidmann, 1883)18:116. 26. Vgl. Franz R. Kempf, Albrecht von Hallers Ruhm aL· Dichter: Eine Rezeptionsgeschichte (New York: Lang, 1986): 105-29. 27. Friedrich Schiller, Ãœber naive undsentimentalische Dichtung, NA 20:413-5328 . Anselm Maler, "Goethes Jugendlektüre," in: A. M., Hrsg., / W. Goethe—Fünf Studien zum Werk (Frankfurt/Main: Lang, 1983) 7. 29. Vgl. ebd., bes. 9-29. Goethe Yearbook 157 30. Zu den theoretischen und kulturgeschichtUchen Dimensionen dieser Gedankenfigur vgl. Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Munich: Fink, 1989): 63-85. 31. Auf die "Literarizität," insbesondere auf die struktureUen Momente und die UitertextueUen Bezüge (vor aUem zu des Abbé Prévosts Manon Lescaut) macht nachdrückUch aufmerksam Henry H. H. Remak, "Goethes Gretchenabenteuer und Manon Lescaut. Dichtung oder Wahrheit?" Ui: Formen der Selbstdarstellung : Festgabe für Fritz Neubert (Berlin: Duncker & Humblot, 1956) 379-95 (ohne übrigens zu fragen, warum Goethe die ausführUche intertextueUe Markierung der Gretchenepisode aus der endgültigen Fassung gestrichen hat). 32. Wie offenherzig Goethe hier war, wenn er seine SchriftsteUerlaufbahn als die eines "Scribenten" beginnen lässt, kann man ermessen, wenn man sie mit EigendarsteUungen anderer Autoren des 18. Jahrhunderts vergleicht, etwa mit der von Brockes, der sich bereits ein Jahrhundert zuvor geziert hatte, zu seiner GelegenheitsschriftsteUerei zu stehen (vgl. Uwe-K. Ketelsen, "Nur kein Spaßmacher und Schmarutzer! Zum Verständnis der RoUe des SchriftsteUers bei B. H. Brockes und seinen Zeitgenossen," in: Gunter E. Grimm, Hrsg., Metamorphosen des Dichters: Das Rollenverständnis deutscher Schriftsteller vom Barock bis zur Gegenwart [Frankfurt/Main: Fischer Tb-Verlag, 1992] bes. 16-28). 33. EUi vergleichbares Erlebnis hatte übrigens Friedrich IL v. Preußen mit Anna Louisa Karsch (Anna Louisa Karsch, Herzgedanken: Das Leben der "deutschen Sappho" von ihr selbst erzählt, hrsg. v. Barbara Beuys [Frankfurt/Main: Societäts-Verlag, 1981] 150-53). 34. Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, hrsg. v. Richard Alewyn (Tübingen: Niemeyer, 1963) 54. 35. Chr. J. Eisenhardt Ui einem Gelegenheitsgedicht aus Anlass des Abschieds von J. Fr. v. Löwen von der Helmstedter Universität, Helmstedt 1748 (UB Göttingen: 2° Poet, germ 16425:2, 401). 36. Vgl. Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse (Hamburg: Buske, 1975). 37. Opitz, Poeterey, 17. 38. Wäre es dem Erzähler bei der DarsteUung der Entstehung des Clavigo nicht um anderes gegangen, so hätte er auch hier in ähnlicher Weise berichten können , wie er habe zur Feder gretfen "müssen," um ein Pfand auszulösen. 39- Auf die Spiegelung dieser beiden Szenen verweist Benedikt Jeßing, "Der Autobiograph als Zuschauer und Regisseur: Zur TheatraUk und Uterarischen Inszenierung zweier Feste UiDichtung und Wahrheit," Ui: Denise Blondeau u.a., Hrsg., feux et fêtes dans Γ oeuvre de J. W. Goethe (Strassbourg: Presses Universitaftes, 2000) 1-15. 40. Opitz, Poeterey, 11. 41. Zu Klopstocks Präsenz m der Lyrik-Diskussion der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts vgl. Meredith Lee, Displacing Authority: Goethe's Poetic Reception of Klopstock (Heidelberg: Winter, 1999) 44-70. 42. Friedrich Gottlieb Klopstock, "Die Braut," Oden und Epigramme (Leipzig: Reclam, o.J.) 56. 43- Auf die soziale Dimension des Gretchen-Romans verweist nachdrückUch Robert Gould, "Book V oÃ- Dichtung und Wahrheit: A Morphical Analysis," in: Forum for Modern Language Studies 8 (1972): 122f. Problematisch ist al- 158 Uwe-K. Ketelsen lerdings, wenn er Gretchens soziale Welt als kleinbürgerUch qualifiziert, nicht nur weü die Ãœbertragung von Termini aus einer Theorie der KlassengeseUschaft auf eine solche der StändegeseUschaft auf Schwierigkeiten stößt. 44. Diese Versuchung, mit Schein und Sem sozialer Umgangsformen zu spielen und sich solcherweise usurpierten geseUschaftüchen Glanz zu erschleichen, bot einen der fortwährenden Anlässe zur Kritik an der Modeerscheinung der bürgeriichen Casualpoesie (vgl. Uwe-K. Ketelsen, "Poesie als bürgerUcher Kulturanspruch: Die Kritik an der rhetorischen Gelegenheitspoesie m der frühb ürgerhchen Literaturdiskussion," Lessing Yearbook VUI [1976]: 89-107). 45. Im phüosophischen Hintergrund dieser Forderung Uegt die Lehre von der "galanten" Conduite (vgl. Manfred Beetz, "Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite: Thomasius Ui der Geschichte der GeseUschaftsethik," in: Werner Schneider, Hrsg., Christian Thomasius. 1655-1728: Interpretationen zu Werk und Wirkung [Hamburg: Meiner, 1989] 199-222). 46. Benjamin Neukirch, Anweisungen zu Teutschen Briefen (1721), zit. nach Conrad Wiedemann, Hrsg., Der galante Stil 1680-1730 (Tübingen: Niemeyer, 1969)31. 47. Für wie prekär eine solche Umsemantisierung eingeschätzt wurde, macht die hoch affektive Verwendung dieses Motivs in der europäischen Literatur von Choderlos de Laclos' Liaisons dangereuses bis Gottfried KeUers Die mißbrauchten Liebesbriefe deutUch. 48. Christian Thomasius, Von Nachahmung der Franzosen, hrsg v. August Sauer, Nachdruck (Darmstadt: Wiss. Buchges., 1969) 216. 49. Der Ausdruck "unschuldig" trägt Un Zusammenhang der kritischen Diskussionen Ui der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein weites Bedeutungsfeld mit sich, insofern er auf die christUche Zeit-Lehre verweist. 50. Literarhistorisch bemerkenswert ist, dass Goethe das 1763/64 überhaupt noch für möghch hält, andere, z.B. Christian Gryphius, hatten schon um die Jahrhundertwende an dieser MögUchkeit gezwetfelt (vgl. Uwe-K. Ketelsen, "Die Krise der Gelegenheitspoesie in der deutschen Frühaufklärung und die Rede von der wahren Poesie," in: Walter Baumgartner, Hrsg., Wahre lyrische Mitte— "Zentrallyrik"? [Frankfurt/Mam: Lang, 1993] 33-49). 51. "Das ist recht hübsch," kommentiert sie (WA 1.26:271). 52. Manfred Beetz, "Ãœberlebtes Welttheater: Goethes autobiographische DarsteUung der Wahl und Krönung Josephs II. Ui Frankfurt/Mam 1764," in: Jörg Jochen Berns u.a., Hrsg., Zeremoniell aL· höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Tübingen: Niemeyer, 1995), 594f., wül Ui diesen Briefen ungebrochen Keime der schriftsteUerischen Entwicklung Goethes erkennen, ohne freiUch deren Position Un poetologischen Subtext des 5. Buchs von DuW m Rechnung zu steUen. 53- Es muß nicht ausdrückhch daran erinnert werden, dass diese Frage des "als ob" von Kunst—unter anderen poetologischen Vorzeichen freiUch—ein vietfach durchdekliniertes Problem innerhalb von Goethes Werk ist. 54. SelbstverständUch begibt sich die Schwester des Poeten, Ui deren Auftrag dieser (zunächst) handelt, nicht an diesen Ort; sie bekommt die Ware zur Ansicht ms Haus gebracht. 55. Dass ihr Fluss dann doch ins Stocken gerät, hat andere, erzählstrategische Gründe. Im übrigen kommt er überraschend schneU wieder Ui Gang. Goethe Yearbook 159 56. Johann Friedrich Kätzler, Deutsche und lateinische Gedichte (Braunschweig 1725) Bl. X4v. 57. Vgl. Angelika Wetterer, Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch: Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern (Tübingen: Niemeyer, 1981) bes. 37-76; Otto Haßelbeck, Illusion und Fiktion: Lessings Beitrag zur poetologischen Diskussion über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit (München: Fink, 1979) bes. 75-118; Wilhelm Voßkamp, Romantheorie in Deutschland von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg (Stuttgart: Metzler, 1973) bes. 186-96; Uwe MöUer, Rhetorische Ãœberlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert: Studien zu Gottsched, Breitinger und G. Fr. Meier (München: Fink, 1983) bes. 44-70. ...