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MARION SCHMAUS Lebenskunst, Kunstreligion, Weltfrömmigkeit: Signaturen des Ich im Gespräch von Goethe und Novalis "Individuum est ineffabile" ίί T Tab ich dir das Wort individuum est ineffabile, woraus ich eine Welt X. Xableite, schon geschrieben?" fragt Goethe in einem Brief an Lavater vom 20. September 1780. Die Frage nach der Erzählbarkeit von Individualit ät wird somit paradox formuliert: Die Aussage "Das Individuum ist unaussprechlich " erhält den Status eines quasi philosophischen Grundsatzes, aus dem sich die Welt ableiten läßt. Unaussprechlichkeit generiert einen unendlichen Zeichenprozeß. Zentral ist dabei die Differenz von direkter und indirekter Mitteilung, denn das, worüber sich nicht einfach sprechen läßt, wird zum Gegenstand einer brieflichen Mitteilung mit kommunikativer Funktion. Die Frage nach dem Individuum wird in ein intersubjektives Gespräch überführt. Womit angedeutet ist, daß Dialogizität in der Goethezeit als die Form erscheint, wie das Unaussprechliche zum Sprechen gebracht werden kann. Für die hier zur Verhandlung stehenden Texte, Goethes Wilhelm Mez'sier-Komplex und Novalis' Heinrich von Ofterdingen , wird diese Dialogizität konstitutiv: Die Lehrjahre und der Heinrich von Ofterdingen sind Gesprächsromane,1 die Wanderjahre spielen die vielfältigen Formen von Schriftlichkeit durch.2 Goethes Äußerung gegen- über Lavater veranschaulicht somit in verdichteter Form, wie die Thematik moderner Individualität um 1800 zu einem "Aufschreibesystem"3 führen konnte und zur Etablierung eines eigenen literarischen Genres, dem Bildungsroman . Denn Individualität, verstanden als unhintergehbare Einzigartigkeit , markiert eine Grenze der Darstellbarkeit, die jedoch nicht ins Verstummen, sondern zu einer potenzierten Rede führt, die von der Hoffnung getragen ist, daß sich ex negativo "zeigt," was nicht direkt benannt werden kann. Das Individuum wird in diesem Romantypus in einem Geflecht von Analogie- und Kontrastrelationen verschiedener Bildungswege eingekreist, und es erlangt erst über die wechselseitigen Erzählungen von Lebensgeschichten ein Verständnis seiner selbst. Goethe Yearbook XI (2002) 256 Marion Schmaus Anhand der Konstellation von Goethe und Novalis läßt sich darüber hinaus zeigen, daß nicht nur Roman immanent die dialogische Rede zum Darstellungsmodus von Individualität wird, sondern auch Text übergreifend . Um 1800 entsteht eine "Literatur auf zweiter Stufe,"5 die programmatisch mit intertextuellen Verfahren arbeitet, um das Individuum zum Sprechen zu bringen. Autorschaft erhält Zitatcharakter. Das sprechende Ich eignet sich die Stimme des anderen zu, es konstituiert sich erst in solchen Zueignungsprozessen. Dieser Sachverhalt wird in der Frühromantik unter dem Begriff "Neue Mythologie" oder "Bibelprojekt" reflektiert.6 Novalis hat im Hinblick auf Goethe das Rezeptionsverhältnis als "Übersetzung " spezifiziert: "Nur dann zeig ich, daß ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich in seinem Geist handeln kann, wenn ich ihn, ohne seine Individualitaet zu schmälern, übersetzen, und mannichfach verändern kann" (HKA 2:424). Im folgenden sollen anhand der Leitbegriffe Lebenskunst, Kunstreligion und Weltfrömmigkeit solche wechselseitigen Übersetzungsvorgänge im literarischen Gespräch zwischen Goethe und Novalis veranschaulicht werden. Der Begriff Lebenskunst hat in der Meister -Rezeption der Frühromantiker Prominenz erlangt—Novalis spricht in Bezug auf Goethes Roman von den "Lehrjahren der Lebenskunst."7 Es kann gezeigt werden, daß sich Novalis mit diesem Begriff den Meister in "Goethes Geist" zueignet und zugleich "mannigfach verändert." Der Terminus "Kunstreligion"8 wird zur Charakterisierung von Novalis' Poetologie herangezogen, die er vor allem in der Auseinandersetzung mit Goethe entwickelt hat und die eine spezifisch frühromantische Zuspitzung des den Lehrjahren abgelesenen Lebenskunst-Modells darstellt. Schließlich kann anhand von Goethes Begriff der "Weltfrömmigkeit" das Fortleben der frühromantischen Verbindung von Kunst und Religion in den Wanderjahren beobachtet werden. Das Mangelwesen Mensch Mit dem Diktum "Individuum est ineffabile" verschränkt sich in der Goethezeit ein weiteres Problemfeld. Nicht nur beim Versuch, Individualität zur Sprache zu bringen, ist der Mensch auf andere verwiesen, sondern auch in seiner Lebenspraxis. Denn der Mensch wird als Mangelwesen gefaßt. So äußert Natalie in Wilhelm Meisters Lehrjahren: "Wie ich die Menschen sehe, scheint mir in ihrer Natur immer eine Lücke zu bleiben" (FA 1.9:907). Im Roman steht vor allem Natalie als "Supplement irgend einer Existenz" (FA 1.9:946) dafür ein, daß dieser Mangel geheilt werden kann. Und darüber hinaus bieten die Lehrjahre als Ganzes ein Therapieprogramm für die lükkenhafte Existenz des Menschen an...

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