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RAINER NÄGELE Ach Ich: Egmonts Wirken—Goethes Schreiben Goethes Dichtung, mehr noch Goethes Selbstaussagen und sein autobiographisches Fragment Dichtung und Wahrheit haben auf nachhaltige Weise die poetische Produktion ans produzierende Ich des Autors geknüpft. Umso auffallender ist der eigentümliche Ausfall des Pronomens Ich am Anfang des Faust-Monologs. Was am Anfang ist und war, beschäftigt Faust eindringlich. Er macht es sich nicht leicht mit dem Anfang des Johannes -Evangeliums. Und da, wo er zu sprechen beginnt, sagt er nicht ich, sondern ach: "Habe nun, ach!" Erst nachträglich, verspätet tritt das Ich, emphatisch und doch in der metrischen Senkung zweimal hintereinander, auf: "Da steh ich nun, ich armer Tor!" Erst da, wo ach war, stellt ich sich ein und steht so auf dem Boden einer bodenlosen Klage. Wo von ihm die Rede ist, wo es von sich redet, ist immer wieder das ach im Spiel, nicht zuletzt da, wo das Ich als gespaltenes sich findet: "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" (1112). In besonders eigentümlicher Weise verschränken Dichtung, Leben und Autobiographie, deren Titel Dichtung und Wahrheit selbst schon auf eine Verschränkung verweist, sich im Egmont. Die Konstellation ist bekannt : Die autobiographische Niederschrift endet, genauer: bricht ab mit einem Zitat aus dem Egmont. Es ist ein entscheidender Wendepunkt in Goethes Leben; man darf sagen "Wendepunkt" im wörtlichsten Sinne, da hier eine schon eingeschlagene Reiserichtung sich umkehrt. Zur Erinnerung der Situation: Es ist Herbst 1775, Goethe befindet sich in Heidelberg im Haus der Demoiselle Delph, um von hier nach langem vergeblichen Warten auf den Wagen des Herzog von Weimar auf Drängen des Vaters statt nach Weimar nach Italien aufzubrechen. Da erreicht ihn im letzten Augenblick die Nachricht, daß der Wagen in Frankfurt angekommen sei, um ihn nach Weimar zu bringen. Trotz der verlockenden Italienreise ist Goethe entschlossen, der Einladung zu folgen. Seine Wirtin, Demoiselle Delph, die andere Pläne geschmiedet hat, versucht ihn abzuhalten. Es kommt zu einer leidenschaftlichen Szene: "Der Wagen stand vor der Tür, aufgepackt war, der Postillion ließ das gewöhnliche Zeichen der Ungeduld erschallen, ich riß mich los, sie wollte mich noch nicht fahren lassen, und brachte künstlich genug die Argumente der Gegenwart alle vor, so Goethe Yearbook XI (2002) 214 Rainer Nägele daß ich endlich leidenschaftlich und begeistert die Worte Egmonts ausrief (HA 10:187). Das Ich, von dem hier die Rede ist, ruft die Worte eines andern aus, die freilich wiederum Worte sind, die von eben jenem Ich Egmont zugeschrieben wurden. Aber können wir so ohne weiteres von "eben jenem Ich" sprechen? Denn eben Ort und Status des Ichs in diesen Texten und sein Verhältnis zu den Namen, für die es zu stehen scheint, sind keineswegs gesichert. Sicher ist, daß aus dem Rückblick der autobiographischen Sicht, das Ich, das hier zitiert wird, "leidenschaftlich und begeistert die Worte" eines andern ausruft. Die Art dieses Ausrufs—"leidenschaftlich und begeistert "—deutet an, daß die Worte von einer andern Instanz her diktiert sind. Das gilt sowohl für Egmont, wie für Goethe, der sie im entscheidenden Moment fast wortgetreu, mit zwei kleinen Abweichungen zitiert.1 Goethe hatte damals das wahrscheinlich fast fertige .Ëgmowi-Manuskript mit sich, um es unterwegs ganz abzuschließen. Dies geschah dann freilich erst 12 Jahre später, als die Italienreise, wiederum ein Wendepunkt, tats ächlich Wirklichkeit wurde.2 Wer oder was spricht, wenn ein Autor in einem kritischen Moment seines Lebens die Worte seiner von ihm entworfenen Figur zitiert? Wenn in einer langen Tradition der Goethelektüre jede Äußemng seiner literarischen Figurationen auf "reale" Lebenssitutionen des Autors zurückbezogen , ja von ihnen abgeleitet wurden, so scheint hier in einer Art Umkehrung die literarische Figur bestimmend ins Leben des Autors einzuwirken . Der Gedanke einer solchen Umkehrung ist nichts Neues, weder in der Literatur noch in der Literaturwissenschaft. Die Idee, daß das Leben von den Szenarien unserer Phantasmen und Fiktionen, von signifikanten Strukturen mindestens so sehr vorgeschrieben ist, wie es diese bestimmt, ist im 20. Jahrhundert fast so sehr Gemeinplatz geworden wie die biographischen Lektüren des 19. Jahrhunderts. Aber Umkehrungen sind immer nur die Wiederholung dessen, was sie umkehren. Freilich können sie ein erster Schritt sein...

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