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VOLKER KAISER Goethes "Ich" und das Subjekt der Dichtung: Zur Genealogie des Gedichts Auf dem See I have said before that metaphors are dangerous . Love begins with a metaphor. Which is to say, love begins at the point when a woman enters the first word into our poetic memory. Milan Kundera it "T\as eine bin ich, das andere sind meine Schriften"—so lautet der JL/ erste Satz des Kapitels "Warum ich so gute Bücher schreibe" aus Nietzsches Autobiographie Ecce Homo: Wie man wird, was man ist.l Mit diesem Nietzsche-Zitat einen Text zu Goethes poetischer Reflexion auf das Verhältnis des "Ichs" zu seinen Schriften einzuleiten, mag manchem Goethe -Philologen die Haare zu Berge treiben, noch bevor überhaupt ein weiteres Wort fällt, scheint doch Nietzsches Diktum auf den ersten Blick völlig quer zu stehen zu der allseits bekannten Formel aus Goethes ureigener Autobiographie, die das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit, Kunst und Leben, dem Text und dem Ich bekanntlich als Bruchstücke einer großen Konfession zu beschreiben suchte. Ob daraus freilich der voreilige Schluß gezogen werden kann, beide Konzeptionen bestimmten den auto-biographischen Status der Dichtung und ihres Subjekts auf einander ausschlie- ßende Weise, bleibt zweifelhaft. Daß es sich keineswegs um einen Gegensatz in der auto-bio-graphischen Begründung poetischer und ästhetischer Subjektivität—wir erinnern uns: nur als ästhetisches Phänomen ist die Welt ewig gerechtfertigt—handeln muß, sondern vielleicht sogar um eine ganz überraschende Nähe beider Autoren zu einander, das reflektiert nicht nur die Hochschätzung, ja "Ehrfurcht,"2 die Nietzsche vor Goethes oeuvre empfand, sondern auch der Umstand, daß Nietzsche offensichtlich einen tiefen Blick in die in Goethes Schriften sich ereignenden Konstitutionsbewegungen des poetischen Geistes geworfen hatte. Schwebt dieser bei beiden Dichtern gleichsam über dem Wasser, mithin jenseits der poetischen Reflexionsfläche, der er gleichwohl, in sie als sein Tiefstes eingeklemmt, entsteigt/ so gibt uns Nietzsche in seiner knappen Goethe-Skizze gegen Goethe Yearbook XI (2002) 198 Volker Kaiser Ende der Götzen-Dämmerung die poetologischen Gründe seiner GoetheVerehrung an die Hand: Goethe—kein deutsches Ereignis, sondern ein europäisches: ein großartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. Was er wollte, das war Totalität; ... er disziplinierte sich zur Ganzheit, er sc/?w/sich. In dieser Panegyrik freilich sind Widersprüche, Konflikte und Ambivalenzen nicht zu überhören, die keineswegs in der vom Autor intendierten Totalität des sich schaffenden Ichs aufgehoben werden können. Niederschlag solcher Ambivalenzen der sich schaffenden Subjektivität sind die merkwürdig unscharfe Bestimmung der Selbstproduktion als "eine Art Selbstüberwindung" einerseits, der Hinweis auf die Gewalt, die solche Produktion dem Selbst abverlangt, andererseits—denn dieses ist nicht, es will Totalität, indem es sich zu ihr diszipliniert. Die "eine Art Selbstüberwindung" ist dämm vielleicht eine ebenso in sich gespaltene, also womöglich mehr als nur eine Art, wie es auch der merkwürdige Modus von der "Rückkehr zur [nicht in die, V.K.] Natur" und dem "Hinaufkommen zum Natürlichen" (auch "das Ewig-Weibliche zieht uns hinan") andeutet. Dabei wird dieser Modus eines aus der Rückkehr zur Natur hervorgetriebenen Hinaufkommen zum Natürlichen, von Rückkehr und (Hin-)Auf-gang, als der Modus eines Werdens, als WiederGeburt , als Re-naissance, verstanden. Die Renaissance des sich selbst schaffenden, Totalität wollenden Subjekts—ein widersprüchliches Verfahren der Selbstkonstitution in der Selbstüberwindung, in der durch äußerste Disziplin im Akt äußerster Selbstbegrenzung das Selbst sein Selbst über-steigt und erst zu sich kommt, indem es sich verläßt. Dieser Modus der Selbstkonstitution ist nicht mehr der einer dialektisch-spekulativ verfahrenden Selbstreflexion des Logos, die sich alle Sinnlichkeit zum Zwekke der in ihr und aus ihr scheinenden Vernunftidee unterwirft. Nein, die von Nietzsche bei Goethe wahrgenommene "Art Selbstüberwindung" gründet nicht den Logos und sein selbstreflexives Subjekt als den Grund und Ursprung seiner selbst, sie ist nicht dessen nachträgliche Konstitution ; sie ist nicht der Modus der Totalisation, der sich rundenden, sich in seiner Sprachreflexion bekundenden ästhetischen Autonomie des Gedichts und seines (aus...

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