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  • Zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion: Hermann Brochs Roman Die Schlafwandler am Ausgang der Moderne
  • Thorsten Carstensen

In seiner Romantrilogie Die Schlafwandler (1929–1932) zeichnet Hermann Broch das Bild einer Welt, die ihrer absoluten Orientierungspunkte beraubt ist – einer Welt, in der Werte und Wahrheiten nur noch kontextuelle Gültigkeit beanspruchen können. Vor dem historischen Hintergrund des Deutschen Kaiserreiches agieren die Protagonisten des Romans in einsamen Parallelsphären; die gesellschaftliche Modernisierung erfahren sie als Prozess ethischen Niedergangs und sozialer Atomisierung. In ihrem Handeln manifestiert sich die Erfahrung der modernen Ambivalenz, die Broch als “eine Zerspaltung des Gesamtlebens” beschreibt, die bis “in das Einzelindividuum und in seine einheitliche Wirklichkeit selber” hinabreiche (Kommentierte Werkausgabe [= KW] I, 42).

Als ein Werk, das Erzählung und soziologischen Essay verschmilzt, nehmen Die Schlafwandler damit Überlegungen vorweg, wie sie der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard ein halbes Jahrhundert später im Kontext einer condition postmoderne formulieren wird. Brochs Roman antizipiert postmoderne Vorstellungen von Diskursformationen, von der Krise der Metaerzählungen und von der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unvereinbare Sprachspiele. Während freilich Lyotard diese Entwicklungen als notwendige Überwindung der in der Moderne verankerten totalitären Tendenzen begreift, regt sich bei Broch massiver Widerstand gegen eine Pluralisierung, die in ein ethisches und moralisches Dilemma mündet. Mit der Grundannahme der Postmoderne, die menschlichen Welten seien “irreduzibel und auf Dauer plural” (Bauman 58), kann sich Broch nicht abfinden. Gäbe es keine “ewigen Wahrheiten,” notiert er einmal, so wäre das Leben “für das Ich ein bloßer Traum” und damit “zweck- und wertlos” (KW XIII/1, 65).

Paul Michael Lützeler, Herausgeber der Kommentierten Werkausgabe, hat Broch als kulturkritischen, von der Hegeischen Geschichtsphilosophie geprägten Modernisten charakterisiert (Die Entropie 33), der vor Fehlentwicklungen der europäischen Zivilisation warne und Alternativen aufweise. Legt man sowohl den Essayzyklus vom “Zerfall der Werte,” der die Handlung des dritten Teils der Schlafwandler fortwährend aufbricht, als auch briefliche Äußerungen und theoretische Schriften Brochs zugrunde, so wird ersichtlich, dass dieser Autor in seiner “Trauerarbeit über den Verlust kultureller Einheit” (Lützeler, [End Page 1] “Hermann Broch” 32–33; vgl. Lützeler, Die Entropie 15) tatsächlich eine andere Therapieform bevorzugt als die Postmodernisten nach ihm: Er träumt “vom großen Neubeginn, vom neuen Epochenstil, vom neuen Mythos, von der neuen irdisch-absoluten Religion, von der neuen Humanität” (Lützeler, Die Entropie 44; vgl. 121). Der Auflösung der Gesellschaft in ein Nebeneinander konkurrierender Systeme begegnet er mit der Forderung nach der Erarbeitung neuer “formaler Grundnormen,” welche “für alle noch so unterschiedlichen Wertsysteme erneut gelten” sollen (Lützeler, “‘Vom Zerfall der Werte’” 166). Damit antizipiert Broch die Auffassung Habermas’, die postmoderne Gesellschaft dürfe sich nicht im Pluralismus der Systeme einrichten, sondern müsse stattdessen das “Projekt der Aufklärung” fortschreiben und danach streben, die gesellschaftliche Einheit wiederherzustellen. Während. Die Schlafwandler eine Gesellschaft zeigen, der das Bewusstsein für moralische Werte sukzessive abhanden kommt, hält Broch in seinen theoretischen Betrachtungen umso vehementer an der Notwendigkeit moralischer Werturteile fest, denn die Welt brauche die “Wiederherstellung ihrer absoluten Moral” (KW XIII/2, 39–40). Allerdings ist er sich zugleich auch der Gefahren bewusst, die mit der Totalisierang eines Systems einhergehen – Gefahren, die sich zum Zeitpunkt der Niederschrift des Romans in den Erfolgen der Nationalsozialisten bereits abzeichneten. Desgleichen ist Brochs Absage an eine anti-ornamentale, rein funktionale Architektur, wie er sie in den Werte-Essays des letzten Teils entwickelt, Bestandteil einer Kritik der Vernunft, die das moderne Denken überwindet und einen der wichtigsten Theorietexte der Nachmoderne, Max Horkheimers und Theodor Adornos 1947 veröffentlichte Dialektik der Aufklärung, antizipiert.

Dennoch hat die Forschung auch den Erzähler Broch, ausgehend von seiner Forderung nach einer neuen ethischen Metaerzählung, in welcher die isolierten Wertgebiete wieder zu einer verbindlichen Einheit gebündelt werden, lange Zeit einer nach Totalität strebenden Moderne zugerechnet. Charakteristisch ist das Fazit Graham Bartrams, der Die Schlafwandler im Umfeld einer modernen Nietzsche-Rezeption positioniert, deren “aktiver Nihilismus” eine Brücke über den Abgrund des Wertezerfalls baue. Hervorgehend aus der philosophischen Tradition Nietzsches, die den fiktionalen Charakter der Wirklichkeit thematisiere, weise der Roman zwar auf ein zentrales Bestreben der Postmoderne voraus, nämlich das Offenlegen der Metaerzählungen der...

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