• Goethes GnostikerFausts vergessener Nihilismus und sein Streben nach Erlösungswissen

I. Einleitung: "In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden" (6256)1

Wie kommt es, dass die auf 200 Jahre angewachsene, kulturzeitliche Distanz zur Veröffentlichung des Faust Erster Teil im Jahr 1808 dessen Deutungsbeliebtheit samt gegenwartsorientierter Reflexivität nicht be einträchtigt? Sieht man von anderen Faktoren wie etwa dem im Text selbst verankerten gattungsgeschichtlichen Symbolwert Fausts,2 seinen "wiederholten Spiegelungen" (WA 1:56–57) ins Transzendente oder von dem der Eigendynamik des Rezeptionsstromes einmal ab, so kann eine Antwort in der kompositionellen Grundstruktur gefunden werden. Es ist namentlich deren synkretistisches Element, welches zur Stabilität der Fausttragödie als protodramatisches Schicksalsparadigma inmitten und trotz des Wandels der Wirkungsgeschichte, Rezeptionsinteressen und Deutungsperspektiven beiträgt.

Der über sechzig Jahre andauernden, poetischen Verarbeitung einer Vielzahl von diskursiven Einflusslinien im Faust entspricht die biographisch nachhaltig wirksame, weltanschauliche Beschäftigung des jungen Goethe mit den frühneuzeitlichen Wissensbeständen der hermetischen Tradition, wie sie die gründliche Studie von Zimmermann herausgearbeitet hat.3 Bekanntlich erwähnt der alte Goethe in Dichtung und Wahrheit mit Bezug auf die Frankfurter Rekonvaleszenzzeit, dass er damals lernte, den "Stammbaum" dieser Denktradition "in gerader Linie bis zur neuplatonischen Schule verfolgen" zu können.4 Diese aber bildete für die Gnosis seit dem 2. Jahrhundert ihrerseits das philosophische Milieu, in welchem sie vorwiegend jüdische, christ liche und hellenistische Weltbildkomponenten zusammenschaute.

Das von Goethe für die Gestaltung des Dramas ausgewertete Material war gewissermaßen bereits in synkretistischer Form überliefert, insofern es sich einerseits von der Heterogenität des frühneuzeitlichen Diskursfeldes und andererseits vom vielfältigen Stoff des historischen Faust herschrieb.5 Um den volkstümlich schillernden Faust, der den Zeugnissen nach als eine Art esoterischer Freak (Astrologe, Phantast, Scharlatan, Quacksalber) um 1500 auftauchte, rankten sich bekanntlich schon bald zahlreiche Legenden. Bereits seit der Jahrhundertmitte wurde er von Zeitgenossen wie Melanchthonals [End Page 89] häretischer Gaukler und typischer Teufelsbündner diffamiert. Die 1587 erschienene und schnell weitverbreitete Historia von D. Johann Fausten dem weitbeschreyten Zauberer unnd Schwartzkünstler kompilierte das heterogene Hörensagen seiner Zeit und reicherte es mit phantastischen, schwankartigen und mythologischen Materialien zu einem zeitgenössischen Abenteuersynkretismus an. Dieses lose Zusammenspiel von teils Überliefertem, teils Erfundenem in engem Bezug zur religiösen Mythologie scheint dem zeitgenössischen Bedarf an weltanschaulicher Selbstvergewisserung und mo ralischer Orientierungssuche entgegen gekommen zu sein, wie der publizistische Erfolg bis ins 18. Jahrhundert hinein nahelegt.

Der Erfolg von Goethes Faustdrama kann zu seinem inkommensurablen Teil auf das virtuose Zusammenspiel von metaphysischen, heilsgeschichtlichen und epistemologischen Vorstellungen zurückgeführt werden. In dem Maße wie diese aus scholastischen Abstraktionen, kirchlicher Dogmatik oder philosophischen Denkgebäuden herausgelöst und im poetischen Medium neu dramatisiert erscheinen, gewinnen sie die Plastizität lebendiger Existenzfragen zurück. Und zwar so, dass ihre Beantwortung im je gegenwärtigen Reflexionshorizont als durchaus offen, als von jedem einzelnen gewissermaßen mitverhandelbar empfunden werden kann.

Solche Aktualisierung von existenziell zentralen Problembeständen gleichsam in und aus Traditionszusammenhängen heraus ist der Sinn, zumindest der Effekt von Synkretismen—seien sie religionsphilosophischer, seien sie poetischer Art. Dies scheint mir für die spätantike Gnosis unter religionsphilosophischem Aspekt ebenso zuzutreffen wie für die Faustus-Historia als Warnliteratur und schließlich für Goethes Faust-Version am Ende des Aufklärungszeitalters.6 Innerhalb der synkretistischen Konzeption des Faust lassen sich tragende Komponenten ausmachen, die nach meiner These am deutlichsten in gnostischer Perspektivierung erscheinen. Dem Gnostischen wurde in der Faust-Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das mag auch daran liegen, dass die Gnosis von ihren antiken Ursprüngen her philologisch bis heute nicht vollständig aufgearbeitet und als historischer Forschungsgegenstand schwer definierbar ist.7 Zudem ist sie als in sich heterogenes Konglomerat von weltabständigen und dezentrischen, esoterischen und mystischen Denk- und Daseinshaltungen in ihrer Wirkungsgeschichte nicht einheitlich rekonstruierbar, sondern bleibt von typologischen Vorentscheidungen abhängig.8

Vielmehr tritt die Gnosis auf ihren Vermittlungswegen des Neuplatonismus, der Alchemie, Magie oder Hermetik hinter diese ins ideengeschichtlich Amorphe zurück, wenn auf sie in der Goethe-Forschung indirekt als geistesgeschichtliche Tradition Bezug genommen wurde.9 Ilgner erläutert "Gnostiker, Alchemisten, Hermetiker" als bis in die Orphik und den Schamanismus zurückreichende kulturgeschichtliche Vorläufer von Faust und sieht hinter diesem insbesondere den Häresienvater und Zauberer Simon Magus stehen.10 Ilgners weitgefasste Kontextdimension versucht zudem Goethe insgesamt gerecht zu werden, indem dieser einer betont optimistischen Seite der Gnosis zugewiesen wird.

Indes wurden gnostische Motive oder Mythen für eine nähere Erkundung von Goethes Fausttext kaum erprobt. Ausnahmen finden sich bei Bayer und [End Page 90] Schöne, auf die an gegebener Stelle Bezug genommen wird.11 Bayer stellt mit seinem gegen die "weitaus überwiegende Mehrheit der Goetheforscher" geführten Nachweis, dass Goethe sich "an die manichäische Vorstellung eines gemäßigten Dualismus an[lehnt]" (Bayer 208), die quellenkritische Grundlage für meine gnostische Lesart bereit. Schöne untermauert diese Auffassung durch den Einbezug der Satans-Paralipomena und macht damit für die Gesamtkonzeption des Dramas den gnostisch-manichäischen Dualismus als strukturbildend plausibel, wie er hier die Interpretationsbasis für Fausts teils nihilistische teils widerstandsbeseelte Grundstimmung bildet.

II. Gnosis als Interpretationskategorie: Methodologische Reflexion

Als entscheidend für seine Ausblendung aus dem Deutungsspektrum des Faust kann die dispersive Präsenzform des Gnostischen angesehen werden, wie sie nicht nur bei Goethe, sondern als kulturelles Phänomen schon von seiner Überlieferung her vorliegt.12 Hochkonjunktur hatte die Gnosis in den ersten drei Jahrhunderten im hellenistischen Teil des römischen Reiches samt seiner nahöstlichen Peripherie. Nach ihrer erfolgreichen Bekämpfung durch die christliche Theologie—deren Anfänge ein Effekt der gnostischen Intervention sind—hat gnostisches Denken keine repräsentativen, d.h. nach ihm auch benannten Formen mehr in der abendländischen Geistesgeschichte angenommen.13 Es ist in letzterer allerdings ebenso weitläufig wie unterschwellig als eine Strömung wirksam geblieben, die religiöse, philosophische und literarische Gegenentwürfe zum kulturellen Hauptstrom mit ideellem Treibgut versorgte.14

Es sind auch im Faust die Gnosisbezüge nicht explizit oder in Form von zweifelsfrei rekonstruierbaren Quellenverwertungen nachweisbar, wie es etwa Bayer hinsichtlich von "Goethes Studium der neuplatonischen und frühchristlichen Literatur" versucht hat.15 Sie sind subliminal, d.h. der sinnzentrierten Lesewahrnehmung zunächst entzogen und doch der tragischen Figurengestaltung, ihren Denkmotiven sowie Stimmungen eingeschrieben. Diese hervorzuheben und für eine Neulektüre fruchtbar zu machen, ist das Ziel der Untersuchung.

Damit wird der Versuch unternommen, einen poetischen Text, der im Verbund seiner über 200 Jahre kontinuierten Interpretation immer wieder aktualisiert wurde und dadurch im kulturellen Wissenssystem bis heute präsent ist, in Beziehung zu setzen mit einem religiösen Textkorpus, das nahezu über 2000 Jahre erst als häretisch verworfen, aus dem Überlieferungsgeschehen abgedrängt, beinahe vergessen, erst seit dem 19. Jahrhundert wieder verstärkte Aufmerksamkeit finden und im 20. Jahrhundert eine veritable Renaissance erfahren sollte.16 Sie trotz ihrer vordergründigen Inkommensurabilität in eine vergleichende Perspektive zu stellen ist ein Experiment, dessen Durchführung von der Erwartung mitgesteuert wird, dass sich meine These bestätigt: es lassen sich dualistische und nihilistische Stimmungen im Faust erkennen, die dessen Denken und Handeln bestimmen und denen eines typologisch verstandenen Gnostikers analog sind. Diese These kann nicht durch eine anregungs- oder einflussphilologische Nachweisführung erhärtet [End Page 91] werden (vgl. Ilgner, Schöne, Bayer). Vielmehr soll dies durch die Erzeugung eines hermeneutischen Mehrwerts geschehen, welche eine "gnostische" Lektüre des Faust ermöglicht. Dazu muss zunächst geklärt werden, was hier unter Gnosis verstanden wird.

Goethe bekannte sich nicht nur ironisch, sondern mit bemerkenswerter Engführung von poetologischen und epistemologischen mit theologischen Aspekten zur Diversität seiner Verfahren und zu der ihm eigenen pluralen "Denkweise," wenn er von sich sagte:

"als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden wie das andre. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen."17

In dieser Äußerung zeigt sich einerseits die spinozistisch inspirierte Weltzugewandtheit anschaulich gehaltener Wissenschaft, andererseits eine der Konkretheit von Kunst abgewonnene Distanz zum jüdisch-christlichen Monotheismus mit seinen jenseitig orientierten Erlösungsvorstellungen. In dieser zweifachen Hinsicht steht Goethes künstlerisch-wissenschaftliches Selbstverständnis auch allem gnostischen Denken ebenso grundsätzlich fern, wie seine Kunstfigur Faust diesem von ihrer eklektizistischen Anlage her nahe steht. Denn letztere tritt von ihrer dramatischen Exposition her—so meine These weiter—im Doppelzeichen eines epistemologisch grundierten Dualismus sowie einer nihilistisch kaschierten Erlösungshoffnung an. Darin vor allem ist Faust als neuzeitlicher Gnostiker entzifferbar.

Zugleich sind damit die zwei Aspekte benannt, die für das hier maßgebliche Gnosisverständnis zentral sind, in welchem die historische Vielfalt gnostischer Systeme, Mythen und Vorstellungen grob auf gemeinsame Nenner gebracht sind:

(1.) Es ist einmal der dualistische Grundzug, der das Denken der Gnosis weltanschaulich und anthropologisch schematisiert und es zwischen den Pol des Göttlichen, des Geistes, des Lichts, des Jenseitigen, des Himmlischen, des Ganz-Anderen und den Pol des Kreatürlichen, der Materie, der Finsternis, des Diesseitigen, des Irdischen, des Selbstverlorenen spannt. In diesem anti-thetischen und weltnegativen Dualismus ist Gnosis die Erkenntnis des Fremdseins des Menschen gegenüber seiner Welt, seines eigentlichen Andersseins. Anders als die fatale Verwicklung in die materiellen Weltverhältnisse den Menschen erscheinen lässt, der doch in seinem Wesenskern dem transmundanen, dem aufgrund seiner Weltfremdheit guten Gott des Lichts, des nous, der sophia, der Liebe und nicht dem alttestamentlichen Gesetzesgott angehört. Dessen Schöpfung ist es, die als bloß demiurgisch verworfen wird samt ihrer archontischen und chaotischen Zumutungen.

(2.) Es ist außerdem und daraus hervorgehend die erlösungsdramatische Grundsituation des Menschen in einer ihm feindlichen und in sich heillosen Welt. Diese erfährt der Gnostiker als die primordiale Gott-Fremde, in deren Finsternis er so lange verbannt bleibt, wie sein Leib mit ihrer Materie verbunden und seine von weltflüchtigem Pneuma erfüllte Licht-Seele aus der irdischen Kerkersituation nicht befreit ist. Inmitten des selbstfremden [End Page 92] Lebens, das als ein dem Vergänglichen gewaltsam Ausgesetztsein empfunden wird, wird sich der Gnostiker der himmlischen Abkunft seines Geistes durch Erkenntnisoffenbarung inne. Anders als in dogmatisch-christlicher Theologie sucht der Mensch die Selbsterlösung in Wiederannäherung an den Vatergott seiner weltfernen Urheimat. Es zieht den Gnostiker auf dem pneumatischen Weg illuminativer Evidenz—modern gesprochen: im Prozess spiritueller Selbstwerdung—aus dem Weltgesetz als materiellem Verhängnis heraus. Er bleibt vom Erdendasein in individualeschatologischer Dimension getrennt, d.h. seine jenseitige Vollendung erfolgt qua Abkehr von der Schöpfung als Inbegriff diesseitiger Unvollendbarkeit.

Mit dieser Skizzierung eines anti-thetischen Dualismus18 samt seiner Erlösungsspannung, die sich aus der Polarität von negativer Weltpräsenz und positiver Gottabsenz aufbaut, ist—für unseren heuristischen Zweck—die dramatisch-metaphysische Gestalt gnostischen Denkens hinreichend konturiert. Denn deren antikosmische und nihilistische, aber auch den pneumatischen Daseinsfunken freisetzende Schlagseite sollte deutlich genug erkennbar sein, als dass sie als Interpretationsfolie dienen kann. Auf dieser lässt sich Goethes Faust von seiner Ausgangslage her unter neuzeitlich modifizierten Aspekten der Entweltlichung, des Nihilismus und des Tatengeistes besser verstehen. Es handelt sich also um ein spekulatives Konstrukt, welches für eine wissenschaftlich-philologische Behandlung des Themas Gnosis unbrauchbar wäre, insofern es die Heterogenität des historischen Phänomens ausblendet. Geeignet hingegen ist es gerade aufgrund seiner typologischen Vereinfachung dazu, die im synkretistischen "Ragout" (100) undeutlichen Züge des Faust in ihrer Verbindung zum "gnostischen Weltgefühl"19 hervortreten zu lassen.

Dieses Verfahren knüpft an Hans Jonas' epochemachendes Werk zur Gnosis an, welches die an Heideggers Daseinshermeneutik geschulte philosophisch-phänomenologische Optik zur Methodik historischer Analysen perspektiviert.20 Die problematischen Aspekte von Jonas' Ansatz können hier nicht diskutiert werden (dazu Markschies 27–28). Sie betreffen den mit jeder Typologisierung verbundenen Verlust an historischer Tiefenschärfe und nicht zuletzt die problematische editionsphilologische Basis, welche die Gnosis-Forschung bis heute beschäftigt.21 Es muss an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass die von Jonas (Existentialismus, 6) durchaus selbstkritisch reflektierte, d.h. sich ihrer eigenen Historizität vergewissernde, existentialistische Lesart der Gnosis den Leitfaden gibt für die im Folgenden vorgenommene gnostische Lektüre des Faust.

III. Zueignung, Vorspiel, Prolog

Die Zueignung stimmt mit ihrem Vokabular aus "Schatten," "Schmerz" und "Klage" einen elegischen Ton an, mit dem das "Leid" an der Vergänglichkeit des Lebens und seiner Zerstreuung in einer aus innerer Distanz betrachteten "Welt" besungen wird. (24–25) Diesem bereits dualistisch markierten Ausgangspunkt folgt in der letzten Strophe das Ergriffenwerden durch "ein längst entwöhntes Sehnen / Nach jenem stillen, ernsten Geisterreich" (25–26). Darin lässt sich das zweite proto-gnostische Motiv erkennen: durch die himmlische Konsonanz zwischen dem Sphärenklang der "Äolsharfe" und dem eigenen [End Page 93] "Lied" ("schwebet nun in unbestimmten Tönen"), setzt die Erlösung aus dem erstarrten Erdendasein ein. Ihr transsubjektiver Anteil ist durch die für einen sakralen Vorgang charakteristische aktivische Form des "Schauer[s]" angezeigt: er "faßt mich" (29–30). Ebenso durch jene weitere Tränen auslösenden Tränen, die nicht den Fluss zurück ins Leben im irdischen Jammertal bedeuten. Vielmehr erweichen sie "das strenge Herz" auf seiner Heimkehr in die transzendierenden "Weiten," in denen der Sturz des Verschwindens sich zu höherer "Wirklichkeit" aufhebt (32–33). Diese erlösungsmelancholische Zueignung ist bekanntlich der gesamten Tragödie vorangestellt.

Das Vorspiel auf dem Theater weist durch ironisch-poetologische Allusionen das Kompositionsprinzip des Stücks als ein synkretistisches aus: "Ragout" (100), "der beste Trank gebraut" (172). Erst die abschließenden Verse kündigen es als ein metaphysisches Theaterspektakel an, in dem es um heilsgeschichtliche Prozesse geht, ohne dass deren dreistöckiges, schöpfungsmythisches Weltbild theologisch identifizierbar wäre: "Vom Himmel durch die Welt zur Hölle" (242). Allerdings wird die dramatische Ausrichtung auf die Ermöglichungsbedingungen der Erfahrung von kosmologisch gegründeter Totalität deutlich im gnostischen Anspruch auf Darstellung des "ganzen Kreis[es] der Schöpfung" (240).

Der biblischen Lesart des Prologs, nach der—wie Goethe Eckermann wissen lässt—"die Exposition [von] 'Faust' mit der des 'Hiob' einige Ähnlichkeit" aufweist, lässt sich eine gnostische Lesart an die Seite stellen.22 Diese kann sich nicht umstandslos auf den Herrn als Gott beziehen, da dieser im Sinne des gnostischen Dualismus nicht Schöpfer der Welt, sondern dieser in ihrer Finsternis lichtvoll gegenüber gestellt ist. Allerdings ist der Herr im Prolog auch nicht ein christlich mächtiger Herr über das Geschehen auf Erden. Zwar suggeriert die "Gärtner"-Metapher herrschaftlichen Besitz der Kontrollmacht des Züchtens, er muss aber hinnehmen, dass sein Knecht ihm "nur verworren dient" und "auf der Erde … irrt … solang er strebt" (308). Verworrenheit und Irrnis aber erzeugen ein Leiden am Erdendasein, das jene Frage nach der Herkunft des Bösen in der Welt evoziert, welche die Bibel mit Hiob (1:6–12) an ihren Gott stellt, die Gnosis indes kosmologisch beantwortet. Nach dieser stellt sich die Theodizee23 gar nicht, da sie nicht das Böse in der Welt, sondern die Welt zum Bösen erklärt. Als solche ist sie nicht Schöpfung des Offenbarungsgottes, der ihr gegenüber das ganz Andere und ideelle Gute bildet, sondern die eines bösen Demiurgen im Sinne des von Schöne (Anm. 11) 151, 205 in den Paralipomena rehabilitierten "häretischen Gegengottes."

Gewissermaßen als dessen Anwalt scheint der Weltverächter Mephistopheles24 zu agieren, wenn er auf Vorladung des Herrn diesen nicht allein angesichts seiner "schlecht[en]" Schöpfungsleistung "anzuklagen" erscheint, sondern wegen seines unbefragten Anspruchs auf die Urheberrechte an allem Irdischen (294). Er beschreibt ihm im gnostischen Duktus der Weltverachtung das jämmerliche Schicksal der geplagten Menschen, wenn er von deren niedrigem Leben als "Zikaden" (288) spricht. Dem Gnostiker Marcion etwa diente die Metapher der "Heuschrecken" zur Verächtlichung der Schöpfung.25 Ebenfalls gnostischer Schöpfungslehre entspricht die dem Herrn im Prolog als einzige verbliebene Möglichkeit des Einwirkens in die Welt. Nämlich seinen "Knecht" Faust, der die Menschen [End Page 94] insgesamt so repräsentiert wie sein Lebensproblem eine Anthropodizee darstellt, von der Welt zu erlösen und "in die Klarheit" des Lichtreiches zu "führen" (309).

Wissend um das darauf beschränkte Weltwirken dieses Herrn, wagt Mephistopheles ihm sogar die Wette anzubieten, auch dieses noch zu "verlieren," wenn er nur die "Erlaubnis" hätte, Faust "sacht zu führen" (314). Denn dass dieser als "der kleine Gott der Welt" zum Verbleib und Verenden in derselben verführbar ist, davon ist Mephistopheles überzeugt, da er die dem Menschen vom Herrn gegebene "Vernunft" für bloßen "Schein des Himmelslichts" hält (284).26 Mit seiner Einwilligung, "diesen Geist von seinem Urquell" abzuziehen—eine gnostische Vorstellung von Menschwerdung (vgl. Bayer 207)—, lässt der Herr sich weniger auf die Wette ein, als dass er eine ihrer Ermöglichungsbedingungen benennt. Diese Reaktion lässt an den spätantiken Druck zur Auseinandersetzung mit dem gnostischen Menschenbild denken, in welchem der Mensch nach seiner Heimkehr aus der Weltfremde ("diese Trauerhöhle," 1589) zu seiner göttlichen Herkunft strebt: "Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des rechten Weges wohl bewußt" (328–29).

Nach und erst recht vor allem, was der Herr über seinen Knecht weiß, kann er diesen kaum als guten im (inhaltlich-)moralischen Sinne und nicht als Menschen im christlichen Sinne meinen. Eher im antiken Sinne von gut als kosmologisch legitimiertem Dasein des Menschen scheint der Herr zu sprechen, auf den als hellenistisches Kulturerbe die kosmische Seinsordnung übergegangen ist. Nur innerhalb letzterer, welche im biblischen Selbstverständnis der drei Erzengel als göttliche Schöpfung gut und das von einer ideellen Sphäre Umgebende ist, scheint die optimistische Annahme eines ethisch orientierten Bewusstseins gerechtfertigt. Denn in allem triebhaften oder auch metaphysisch verdunkelten "Drange" können werthafte Kriterien wie recht bzw. unrecht nur Bestand und damit Leitfunktion über ihre Negation hinaus haben, wenn sie mit einer Gesetzesmacht rückgekoppelt sind, die hier im wörtlichen Sinne von religiös (lat. religere = verbinden) der Herr selber verkörpert.

Erst im zweiten Teil der Tragödie, der in die große Welt führt, erfüllt Faust etwas von dem in ihn gesetzte Vertrauen des Herrn. Zwar konkurriert er mit diesem dort teilweise, insofern sein gnostisch induzierter Geist der Tat sich zu demiurgischen Experimenten steigert. Jedoch ist Faust am Ende "Nicht mehr vom Drange menschlichen Gewühles, / Nicht von der Macht der Dunkelheit gerührt" allein, sondern sein Weg hat ihn aus den "Barbareien" heraus "zur Klarheit aufgeführt," wie es die Strophe "Abschied" im Schlussgedichte der Paralipomena resümiert.27 Der Schluss verheißt somit Erlösung aus dem "Ewige[n] Düstre[n]" (11455) im gnostisch lesbaren Zeichen der Lichtwerdung, insofern Erkenntnisstreben als deren Ermöglichungsbedingung erfüllt ist: "Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen" (11936–37). Im Unterschied zu jedem weltnegativen Denken aber wird Faust mit dem Herrn des Prologs in Beziehung ge setzt, indem über den thematisierten "Schöpfungsgenuß von innen" (Goethe, Paralipomena, 459) Mensch und Gott in die gemeinsame Perspektive weltimmanenter Transzendenz gestellt sind. [End Page 95]

Zuvor jedoch geht es nach Goethes dualistischem Schema zur gesamten Dichtung28 um "Tatengenuß nach außen" (Goethe, Paralipomena, 459). Dieser überführt die anfänglich asketische Weltabständigkeit auf dem von Mephisto gewiesenen unrechten Weg in die Hölle der gegenwartslosen Zeitlichkeit unstillbarer Begierden. Im ersten Teil ist zudem die neuzeitliche "Erscheinung des Geists als Welt- und Tatengenius" (ebd.) auf das göttliche Privileg des Herrn qua imitatio Patris et Spiritus29 zurückbezogen: Faust inthronisiert sich mit diabolischer Unterstützung zum Selbst- und Weltschöpfer, in Ablösung des überkommenen Gottes der Genesis strebt er nach ingeniöser Überbietung von dessen nicht länger als gut zu erachtenden Machwerk. Die kreative Konkurrenz mit dem Göttlichen führt ihn aber in die Rastlosigkeit einer Selbsttätigkeit, deren gnostisches Streben nach "Erkenntnis des Ganzen"30 sich in der Sinnleere partikularen Wissens zu verlieren droht.

IV. Osterspaziergang

"O glücklich wer noch hoffen kann, / Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen! / Was man nicht weiß, das eben brauchte man, / Und was man weiß, kann man nicht brauchen" (1065–67).

Mit dieser Aussage fertigt Faust die selbstgenügsame Fortschrittsgläubigkeit Wagners ab, die im Vermehren der Kenntnisse und ihres Weiterreichens in der Generationenkette deren künftige Aufgipfelung zu "höherem" Wissen garantiert sieht. Dieses dem religiösen Modell eschatologischer Erwartungen nachgebildete Vertrauen in den kulturellen Wert von Wissenschaft im Sinne säkularisierter Erlösungshoffnung kann Faust nicht (mehr) teilen. Wo der Famulus sich die Gebirge wissenschaftlicher Wahrheit(en) erheben sieht, meint Faust im "Meer des Irrtums" (1065) untergehen zu müssen. Und zwar nicht nur aus dem Schuldbewusstsein heraus, als Sohn eines mörderische Medikamente verabreichenden Vaters—eines alchimistischen Seuchenarztes—an Krankheit und Tod von "Tausende[n]" beteiligt gewesen zu sein (1053). Vielmehr aus dem für ihn offenbar schwerer wiegenden Grund der heilspraktischen Insuffizienz seines Wissens insgesamt.

Unbrauchbarkeit oder aber Nichtverfügbarkeit—beides zusammen deutet auf das strukturelle Problem eines theoretischen Wissenstypus hin, wie ihn Faust mit dem der entstehenden neuzeitlichen Naturwissenschaften zu identifizieren scheint.31 Insofern diese gemäß ihrem empirischen Methodenideal den Faktor Mensch aus ihren Experimentalanordnungen auskoppeln, scheint mit dessen Beobachtungsinteresse an der Natur auch alles für ihn Nützliche wegzufallen. Dass Wissenschaft stattdessen zu unnützen Erkenntnissen führt liegt danach am Anspruch auf deren Objektivierbarkeit, insofern diese das Ergebnis hypothesengerechter Systematisierung und theoretischer Erklärung von Phänomenen ist, die vom menschlichen Tun unabhängig sind. Für diese satirisch-pessimistische Sicht der von Faust jedenfalls über den Bereich der Medizin hinaus generalisierten Wissenschaftskritik spricht ihr unmittelbares Übergehen in schwärmerische Naturbetrachtung.

In Form eines kontemplativen Überblickens einer hügeligen Abendlandschaft wird der wissenschaftskritische "Trübsinn" stimmungsästhetisch aufgehellt und zusätzlich durch naturreligiöse Phantasien metaphysisch [End Page 96] kompensiert32 (1069). Der mit Fausts Naturbegeisterung zugleich verach-tungsvoll gesetzten Distanz zum "helle[n], kalte[n] wissensch[aftlichen] Streben Wagner[s]" (Goethe, Paralipomena, 459) geht das gnostische Pathos des Aufbegehrens gegen die eigene, in sich verschlossene Existenzform ("der Unbehauste? / Der Unmensch," 3348–49) des Natur und Welt entfremdeten Gelehrten voran, mit dem die Fausthandlung einsetzt.

V. Nacht

Schon der bühnentechnische Hinweis "in einem hochgewölbten engen gotischen Zimmer" eröffnet den theatralen Schauplatz als einen Stimmungsraum, der—mit einem Goetheschen Begriff gesagt—"systolisch" getönt ist (HA 3:20). Die attributive Reihung hochgewölbt-eng-gotisch ist ebenso kulturell wie psychologisch codiert. Die architektonische Angabe des Hochgewölbten und Engen wird durch ihre Rückbindung an die Figur wahrnehmungssinnlich perspektiviert und durch den stilgeschichtlichen Zusatz gotisch ins Metaphysische verlängert, insofern damit das Prinzip des senkrecht Aufragenden mittelalterlicher Kathedralen konnotiert wird. Zusammen mit der Zeitangabe "Nacht" sowie der "unruhig[en]" Platzierung Fausts "am Pulte" wird insgesamt eine dunkle Stimmung evoziert. Dieses psycholokale Dunkel verweist dem aufklärerischen Topos gemäß aufs finstere Mittelalter, traditionell auf die Abblendung des Lichts der Vernunft und metaphysikgeschichtlich auf die gnostische Unruhe des Geistes in seiner seelischen Enge auf Erden und seine Gefangenschaft im Kerker des Leibes.

Das vielzitierte Hab-ich-doch-ach-Lamento über die Vergeblichkeit seiner akademischen Bildungsanstrengungen und die Ergebnislosigkeit seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit hebt also aus einer bereits mehrfach codierten Stimmung heraus an. Als nicht bloß subjektive Stimmung wird sie für den folgenden Monolog bestimmend bleiben, indem sie diesen über das Individuelle hinaus kulturell vernehmbar macht. Aus ihm spricht nicht allein die persönliche Frustration eines Gelehrten, sondern umgekehrt durch diese hindurch artikuliert sich—nach meiner These—neuzeitlicher Nihilismus aus seinem bis in die Antike zurückreichenden Traditionszusammenhang mit dem gnostischen Dualismus. Darin freilich unterscheidet sich die poetisch-dramatische Gestaltung des Naturforschers Faust vom magnetisch-polaren Denken33 des Naturforschers Goethe: dieser nämlich ist nicht auf epistemische und schon gar nicht gnostische Dualitätsstrukturen fixiert, sondern er begreift—in naturmystischer Tradition34—polarisierte Duale über deren dynamisches Kräftefeld als Differenzierungsmomente von strukturaler Einheit.

Fausts im Dialog mit Wagner wiederholte Wissensskepsis beinhaltet eine Kritik am neuzeitlichen Naturverständnis, wie es sich mit der Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaften seit Galilei herausgebildet hat. Es ist deren methodologische Prämisse ebenso wie weltanschauliche Konsequenz, dass Natur als Materie vergegenständlicht, zum Körper eines Nicht-Ich neutralisiert und so zur res extensa veräußerlicht wird. Dieser auf Bereitschaft und Fähigkeit zur Abstraktion von Dimensionen des Inneren, Eigenen oder Ich-Angehörigen zählenden Auffassung von Natur entspricht deren experimentelle Bearbeitung. Deren "Instrumente" beschreibt Faust in Analogie zu [End Page 97] Folterinstrumenten, mit denen er die Erkenntnisschranken zur Natur heben, ihr "Geheimnis" abpressen und in ihr Innerstes eindringen wollte (665–66).

Seine Skepsis gegenüber dem Wissen betrifft also nicht nur das scholastisch kanonisierte aus den anfangs aufgezählten mittelalterlichen Fakultäten, sondern wird vielmehr vom Versagen der experimentalwissenschaftlichen Methodik ausgelöst. So sieht der inquisitorische Naturforscher35 nicht deren epistemologischen Vorzüge, sondern realisiert am eigenen Dasein die anthropologischen Nachteile der ihr zugrunde liegenden Weltanschauung. Auf dem Osterspaziergang wird Faust, der als Wissenschaftler deren vergegenständlichte Natur gleichsam verinnerlicht, d.h. sich von ihr wie von sich als Natur entfremdet hat, den Verlust innerer, lebendiger Beziehung zur Natur mit deren pantheistischer Überhöhung ausagieren. Dieser—in Goethes Terminologie—"diastolische" Stimmungsaufschwung im frühlingshaften Tauwetter ist eine psychodynamische Gegenreaktion zum "systolischen" Stimmungstief in der Enge des Wohnlabors.

In diesem sind es zunächst die Unruhe und die nihilistische Relativierung möglichen Wissens, in denen sich der Verlust der Natur als sinnhafter Bezugsgröße äußert. Denn dieser wird—tiefenpsychologisch gesehen—offenbar als Verlust eines Selbstobjekts realisiert, indem er Unruhe, Angst, Niedergeschlagenheit auslöst. Er zwingt—philosophisch gesehen—zu einem Denken des Selbst nicht mehr nur gegenüber oder getrennt von der Natur, sondern ohne diese und legt die Alternative von radikal objektlosem Solipsismus oder subjektlosem Naturalismus nahe. Jenem entspricht im weiteren Verlauf Fausts voluntaristischer Gestus rücksichtloser Selbstbehauptung als kleiner Gott in einer verachteten kleinen Welt. Diesem indes—dem subjektlosem Naturalismus—der amoralische Gestus ebenso rücksichtloser Selbstreduktion eines Menschen, der sich über seine Sinnlichkeit eher me chanisch zur Natur gehörig weiß, ohne an einem Sinn der Natur teilzuhaben.

Dass Natur ihres Sinns als weltkonstitutive Kraft verlustig gegangen ist in dem Maße, wie sie zum Feld möglichen Wissens vergegenständlicht worden ist, scheint überhaupt erst den Anlass zu der verheerenden Bestandsaufnahme in der Eingangsszene gegeben zu haben. In ihr lässt sich Fausts von Schmidt als strukturbildend herausgestellte Melancholie36 als eine solche des Wissens ums Nichtwissen erkennen, in welchem sich der Sinnverlust depressiv fixiert. Wenn Faust meint sich eingestehen zu müssen, "daß wir nichts wissen können" (364), und darauf nicht mit der Nüchternheit des Naturforschers oder auch Agnostikers reagiert, sondern mit der Leidenschaft eines Metaphysikers, der mit dem "Herz" anstelle des Kopfes denkt ("Das will mir schier das Herz verbrennen," 365), dann beklagt er eine Reduktion an Welterfahrung, die mit der von ihm bisher betriebenen Weise der Wissenserzeugung einhergeht. Was dem wissenschaftlichen Wissen als objektivierbarer Erkenntnis fehlt, nämlich die Sinnbezüge, die das Selbst-Welt-Verhältnis erst als ein auch lebbares organisierbar machen, versucht Faust im folgenden durch eine Reanimierung des in der Natur liegenden sinnhaften Ganzen wieder herzustellen.

Das Medium aber dieser Reanimierung ist zunächst, wie die Sololoquien der Studierzimmerszenen vorführen, die subjektive Reflexion, die für die Konstituierung von Sinn unverzichtbar ist. Sie hebt bei dem mit Gott, der Welt und sich selbst hadernden Faust aus einer nihilistischen Stimmung an, [End Page 98] wie sie in ihrer dualistischen Abgründigkeit für die Gnostiker der Spätantike kennzeichnend zu sein scheint. Wie Fausts neuzeitliches Wissen ihn als Menschen aus dem vormals von Gott geknüpften Sinnzusammenhang der Natur herauslöst, so weiß sich der Gnostiker verbannt aus seiner transmundanen Heimat in die ihm wesensfremde Schöpfung eines bösen Demiurgen. Noch dessen Vertreter kann Faust deshalb um Fluchthilfe anflehen: "Hilf, Teufel, mir die Zeit der Angst verkürzen!" (3362).

Von den Göttern des mittelalterlichen Christentums und des alten Griechenland verlassen, aus kosmologischer Mitte an die kopernikanische Peripherie eines unendlichen gleichgültigen Universums versetzt, zudem ohne brauchbares Wissen steht Faust als armer Tor da—allein gegenüber einer wertfreien Welt. Es ist diese akosmische Befindlichkeit des auf seine vereinzelte Existenz zurück geworfenen Menschen dessen ungeheures Schicksal der neuzeitliche Faust mit dem spätantiken Menschen teilt. Jener sieht sich einer totalisierten Indifferenz ausgesetzt, mit der für ihn die Verbindlichkeit jeder Seinsordnung schwindet und die ihm die teuflische Freiheit zu sich zumutet, aber um den Preis einer ihn tragenden Weltstruktur. Der Gnostiker hingegen sieht sich in einer gottfernen Welt, einer geistfremden Natur, dämonischen Mächten ausgesetzt und ist damit zwar negativ, immerhin aber innerhalb eines antagonistischen Beziehungszusammenhanges positioniert. In diesem lässt es sich aufs Dramatischste verneinen, verachten und transzendieren ohne sich im eigenen Schrecken vollends zu verlieren wie es der Neuzeitler tut, wenn er angesichts einer bezugslos gewordenen Welt vom horror vacui erfasst wird und sein Selbst in diesem zu verlöschen droht: "Tollheit oder Angst und Graus!" (3302).

In die Vergleichsperspektive von modernem und gnostischem Nihilismus (vgl. Jonas Existentialismus, 23–24) gestellt, erscheint der Faust der Gelehrtentragödie—und ausschließlich von diesem ist hier die Rede—letzterem sogar näher zu stehen. Denn es ist ein mehr metaphysischer als existentialistischer Nihilismus, aus dem die faustische Stimmung hervorgeht. Auf der Schwelle zur Moderne, deren Überschreiten ihn am Ende in die Erblindung führt, wird der furcht- und freudlose Magister von einer manischdepressiven (vgl. Löw, 413–31) Stimmung eingeholt, in der sich Unmut und Übermut, Angst und Selbstgefühl, Ohnmacht und Machtwillen mischen. Sie löst ein Zögern aus, den naturwissenschaftlichen Weg seines Wissenwollens weiter zu gehen, der ihn in eine als menschenunwürdig empfundene Lebenslage geführt hat: "Es möchte kein Hund so länger leben! / Drum hab ich mich der Magie ergeben, / Ob mir durch Geistes Kraft und Mund / Nicht manch Geheimnis würde kund" (377–78).

Die Zuwendung zu Magie, Geist und Geheimnis in dem Augenblick, wenn ihm die gewissermaßen gerade erst eingenommene Daseinshaltung des modernen Menschen schon unhaltbar vorkommt, bedeutet zumin dest vordergründig eine Rückwendung. Diese reicht über die vormodernen Wissenspraktiken der Alchemie, über Paracelsus, Albertus Magnus und durch die Vermittlung hermetischer Traditionsbestände zurück in die Spätantike. Das aus dem 2. und 3. Jahrhundert n.Chr. stammende Corpus Hermeticum (heidnisch-gnostische, griechische Schriftensammlung), in welchem ägyptische und orphische Mysterien mit dem Neuplatonismus verschmolzensind, [End Page 99] bildet schließlich das Verbindungsglied zur Gnosis. Es soll indes nicht um Rekonstruktionen ideen-, wirkungs-, oder diskursgeschichtlicher Zusammenhänge gehen, wie sie ausgehend von Goethes Hermetikrezeption etwa bei Wachsmuth, Bayer, Zimmermann und Matussek überzeugend unternommen wurden.37 Faust soll hier nicht aus einer historisch-genetischen Ableitung heraus erklärt werden, sondern als eine Figur mit nihilistischer Grundhaltung analogisch gedeutet werden. Insbesondere ist—wie wir an Fausts Natur- und Weltentfremdung gesehen haben—seine Ausgangslage als ein akosmischer Dualismus im Sinne einer Dissoziation von geistigem Selbst und materieller Welt zu verstehen. Dieser treibt das ungehaltene Monologisieren hervor und den "Repräsentanten der Moderne"38 an den Rand des Selbstmords, der den Bruch mit jeglicher Seinstotalität zu kitten verspricht.

Was ihn im Diesseits bewahrt ist bekanntlich die Kindheitserinnerung religiöser Stimmungsmomente. Es ist diese Faust im Notfall noch offen stehende Möglichkeit des Zurückgreifens auf metaphysisch intakte Imaginationsformen und Vorstellungsinhalte, die ihn von der nihilistischen Radikalität des transzendenzlosen Dualismus der Moderne unterscheidet. Und dass er diese Möglichkeit, nämlich aus Verzweiflung am (Nicht-)Wissen, auch ergreift, erhöht nur noch den Interpretationsbedarf seines Nihilismus. Dessen metaphysische Abfederung hebt den zugrunde liegenden Dualismus nicht auf, nimmt ihm aber den Stachel der Beziehungslosigkeit und eröffnet aus seiner Abgründigkeit die Perspektive einer Erlösung durch Erkenntnis. Genau damit aber erscheint Faust im anthropologischen Dispositiv der Gnosis.

Dies lässt sich am Stimmungsumschwung des Magisters beobachten, der mit seiner Entscheidung eintritt, sich nicht länger "mit heißem Bemühn" wissenschaftlich zu betätigen, sondern der "Magie [zu] ergeben" (377). Mit dieser Entscheidung versucht er aus der Sackgasse einer Wissenserzeugung auszuscheren, deren Erkenntnishaltung ihm nicht nur die Natur entfremdet und die Welt zur indifferenten Größe entwertet hat, sondern als Reflex darauf auch sein Selbstverhältnis destrukturiert hat. Die daraus aufgebrochene Verzweiflung soll nun durch eine magische Rückbindung des Weltwissens an eine Erkenntnishaltung überwunden werden, die eine reflexive Selbstauslegung einschließt: "Daß ich nicht mehr, mit saurem Schweiß, / zu sagen brauche, was ich nicht weiß; Daß ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält" (382–83). Hier wird der Wille zur Erkenntnis der Welt aus einer Stimmung heraus artikuliert, in der die Verzweiflung am theoretischen Wissen ("in Worten kramen," 385) mit existentiellem Insuffizienzgefühl konvergiert. Dass der solchermaßen prekär vorgestimmte Erkenntniswillen zudem aufs Innerste der Welt gerichtet ist, verrät etwas von seinem gleichermaßen vitalen und spekulativen Interesse an einer harmonischen Zusammen-Stimmung mit dem Innersten des Selbst. Die Erlösung von dessen Leiden an den Dissoziationskräften, denen es im Eindruck des epistemologischen Dualismus ausgesetzt ist, wird vom magischen Erkennen der Kohäsionskräfte der Welt erwartet. Darin liegt der selbsttherapeutische Praxiswert von Fausts Gnosis.

Es handelt sich also nicht um die wissenschaftliche Suche nach der physikalischen Weltformel, die den Schlussstein im Theoriegebäude etwader [End Page 100] neuzeitlichen Mechanik oder eines philosophischen Systems bilden könnte. Die Neugierde einzelwissenschaftlicher Beobachtung weicht dem Verlangen nach ganzheitsmystischer Anschauung. Fausts Kehre ist eine weg vom Epistemischen und hin zum Gnostischen.39 Seit der wissenschaftlichen Resignation im Anfangsmonolog ist sein Wissensdrang von einer Erlösungshoffnung angetrieben, die auf die Erkenntnis kosmischer Totalität, d.h. auf ein seine Teile integrierendes und sie übergreifendes, in sich geordnetes Sinnganzes gerichtet ist. "Dieses Ganze aber," merkt Mephisto spöttisch an, "ist nur für einen Gott gemacht" (1781).40 Die Wirklichkeit des göttlichen Ganzen kann nicht ein rational zu erklärender Strukturzusammenhang sein, dessen Erkenntnissubjekt Element desselben wäre. Sie kann nur als das Konstrukt eines metaphysischen Sinnverlangens analytisch durchschaut oder in einem Symbol höheren Wissens noetisch erschaut werden.

Letzteres versucht Faust, wenn er mit einer aus gnostischen und pietistischen Vokabeln montierten Diktion41 seine akosmische Lebenslage beklagt und schließlich im "heil'gen Zeichen" des "Makrokosmus" seine Wiedereingliederung in die Ordnung eines Ganzen erschauen will (430–31). Mit solcher Symbolkontemplation folgt er einem neognostischem Impuls. Seine Verzweiflung am unmöglichen Wissen hat ihm die Augen geöffnet für die metaphysische Relevanzlosigkeit möglichen Wissens. Beides zusammen treibt ihn nun ins dualistische Splitting und die zweifache Negation von Welt und Selbst. Daraus resultiert die Verachtung des irdischen "Kerker"-Daseins (398) einerseits, die Imagination einer jubilatorischen Heimkehr in die pneumatische "Geisterwelt" andrerseits: "War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb"? (434–35) Die spekulative Annäherung des deus absconditus erfolgt hier im Namen des Nostradamus', dessen poetisierte Prophezeiung ermöglicht im Medium der Schrift eine Kommunion der Geister, die in der gnostischen Entbergung eines göttlichen Selbst aus seiner weltlichen Kontingenz gipfelt: "Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!" (439).

Faust betrachtet das Makrokosmus-Zeichen42 zunächst als ein dynamisches Symbol für die metonymische (Re-)Integriertheit des Mikrokosmus Mensch in die prästabilierte Ordnung des kosmischen Ganzen. Dadurch überwindet er den Akosmismus für die gesteigerten Augenblicke der sphärenharmonischen Ganzheitsstimmung, bevor er diese sofort wieder als trügerisches "Schauspiel" verwirft:

"Wie alles sich zum Ganzen webt, / Eins in dem andern wirkt und lebt! / Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen / Und sich die goldnen Eimer reichen! / Mit segenduftenden Schwingen / Vom Himmel durch die Erde dringen, / Harmonisch all das All durchklingen!"

(447–53)

Die poetisch-motivisch entfesselte Kombinatorik,43 mit der Goethe seinen Protagonisten hier und im folgenden mit Mephisto als dessen "nihilistischen alter ego" (Schmidt [Anm. 5] 42), mit dem Hexenzauber und erst recht mit den allegorischen Figuren im zweiten Teil an einer Revitalisierung seines ermatteten Selbst- und Weltverhältnisses zu Werke gehen lässt, passt schlecht zum rational entworfenen Menschenbild eines neuzeitlichen Gelehrten. Umso besser passt sie zum panischen Weltendrama eines Gnostikers, zu seiner pneumatologischen Esoterik und seiner mythotheologischen Heilsvision. [End Page 101]

VI. Erdgeist

In den Freigeistern und Skeptikern, die von frühneuzeitlicher Hermetik und Mystik sowie von Neuplatonismus und Alchemie inspiriert sind, leben die Gnostiker der Antike fort. So zeigt die folgende Erdgeistbeschwörung wiederum einen phantastisch anmutenden Faust. Die Prosopopeia lässt zudem den Erdgeist als externes Korrelat eines dämonologischen Selbstverstehens und damit zunächst unter gnostischem Aspekt erscheinen. So spricht im Zuge der Rehabilitation spiritueller Korrespondenzverhältnisse "ein Geist zum andern Geist" (425). Vermittelt über die seit der späten Antike sehr komplexen Transformationen ist hier das Gnostische allenfalls aufgehoben in der alchemistischen Adressierung der "lebendigen Natur" (414) als schöpferisches Prinzip: "Schau alle Wirkenskraft und Samen" (384) nimmt Faust sich anstelle experimenteller Bearbeitung von Einzelphänomenen der natura naturata vor. Es ist die—damit alchemistischen wie manichäischen Vorstellungen entsprechend44—weiblich, genauer: mütterlich aufgefasste natura naturans, von der Faust sich Erlösung von seinem entfremdeten Gelehrtendasein in 'umfangendem Umfangenwerden' verspricht: "Wo fafi ich dich, unendliche Natur? / Euch Brüste, wo? Ihr Quellen allen Lebens, / An denen Himmel und Erde hängt, / Dahin die welke Brust sich drängt—Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht ich so vergebens?" (455-59).

Bevor "sich nach ihm hin" später Gretchens "Busen drängt" (3406) und damit sein Vereinigungsverlangen mit der Natur als einem spirituellen Ganzen sinnlich konkret, glücklich erwidert und sexuell personalisiert wird, muss Faust sein experimentalwissenschafüiches Naturverhältnis revidieren. Es wird überlagert vom gnostischen Erkenntnismodell, welches symbolisches Wissen erzeugt, indem es äußere Phänomenbestände mit dem inneren Zusammenhang geistiger Wirklichkeit rückkoppelt. Fausts Schmachten be reits verortet die Schöpfernatur aufgrund ihrer primordialen Selbstdynamik noch über der Mikro-Makrokosmus-Symbolik und integriert diese in jene (An denen Himmel und Erde hängf).

Faust sucht in der leidenschaftlichen Beschwörung des Erdgeistes45 und erst Recht dann im erfahrungsoffenen Weltgang die Erlösung in einer dem dualistischen Grundproblem entfliehenden Richtung. Die antikosmische Gnosis freilich möchte nicht, wie Faust es hier durch seine Vergeistigung der Welt und Vergöttlichung der Natur versucht, den Dualismus aufheben. Vielmehr will sie das Leiden an ihm reflexiv zur Erkenntnis vertiefen, um das Selbst von der widergöttlichen Welt samt ihrer schlechten Natur zu entfernen und zu sich selbst als Weg des Wissens vom und zum transmundanen Gott zu finden. Anders als der dualistisch fixierte Gnostiker lokalisiert Faust den Geist nicht im Selbst und dessen pneumatologischen Bindung an einen Gott auβperhalb der Welt, sondern umgekehrt: er sucht hier den "Geist der Erde" als die pantheïstische Kraft, die die Welt im Innersten zusammenhält, und welche "der Gottheit lebendiges Kleid," nämlich die Natur als Symbol erschafft (509).

Der dem weltfrommen Pantheismus und weltflüchtigen Gnostizismus gemeinsame Ausgangspunkt, nämlich nihilistischer Dualismus, bleibt je doch in der dialogischen Prosopopeia unverkennbar. Denn der Erdgeist ist darin [End Page 102] nicht nur anthropomorphe Figuration der Natur, sondern auch deren Verlustes. Das zeigt sich daran, dass Faust der Erscheinung zunächst nicht standhält (abgewendet: Schreckliches Gesicht!"), den "Übermenschen [in ihm] erbärmlich Grauen fapt" und dieses "schreckliche Gesicht" in ihm einen "furchtsam weggekrürnmte[n] Wurm" erblickt (498). Nachdem die "Flammenbildung" sich schliefilich als lebendiges Strukturganzes der vier Elemente erklärt hat (vgl. Böhme [Anm. 35] 70-79), verkennt der wieder zu sich gekommene Faust den Erdgeist gar als "geschäftige[n] Geist," der "die weite Welt umschweif[t]," ihr also wesentlich äuβerlich bleibt (510). Eben darin weiB dieser sich identifiziert mit eben jenem vergegenständlichenden "Geist," der Fausts dualistisch grundierter Erkenntnishaltung eigen ist: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir! Verschwindet" (512-13). Zusammen mit dem Erdgeist verschwindet Fausts in die Weltimmanenz der Gottnatur gesetzte Hoffnung auf Verwindung der "geheime[n] Schmerzen" (645), die ihm die Indifferenz der Natur als Folge ihrer epistemologischen Veräußerlichung zugefügt hatte.

Das Scheitern seines Versuchs der magischen Rekonsolidierung einer integralen Seinstotalität ist somit durch Fausts fortgeschrittene Verinnerlichung der neuzeitlichen Selbst-Welt-Spaltung bedingt. Prompt verfällt er der Konsequenz einer kompensatorischen Deifikation des Selbstseins: "Ich Ebenbild der Gottheit!" (516) Das biblische Motiv der Gottesebenbildlichkeit erfährt hier eine zweifache Wendung im Sinne der Gnosis. Zum einen vom kollektivistisch bzw. gattungsgeschichtlich gedachten Verhältnis zwischen Mensch und Gott hin zu einem individualistisch bzw. existentiell deklin ierten. Zum anderen dadurch, dass das schauende Wiedererkennen des göttlichen Selbst über eine Beschwörungspraxis erfolgen soll, die Faust hinter seinen pansophischen und naturphilosophischen Zügen als theurgischen Gnostiker erscheinen lassen. Dieser nämlich ist es, der nicht nur mystisch Teilhaftigkeit am Göttlichen erfahren will, sondern diese manipulativ herabbeschwört. Die über den meditativen sowie medialen Umgang mit dem Makrokosmuszeichen und dem Erdgeist herbeigeführten Trance-Zustände zielen schlieβlich auf eine aktive Teilhabe an einem Wissen um das Ganze (Gnosis), dessen gött liches Privileg von Faust für sein ebenbildliches Geistesselbst ("honen Geistes," 1577) eingefordert wird.

VII. Suizid

Bedenkt man die zentrale Bedeutung, welche den Nacht- und Studierzimmerszenen insgesamt zukommt, dann muss entgegen der in der Forschung verbreiteten Meinung festgehalten werden, dass für die Gestaltung der Faustfigur der pantheistische Monismus nicht grundlegend sondern sekundär ist. Ihm vorgeordnet und durchgängig inhärent ist eine der Gnosis verwandte dualistische Grundstimmung. Deren nihilistische Wissensanzweiflung steigert sich unmittelbar nach dem gescheiterten Versuch mit theurgischer Magie gar zur präsuizidalen Depression. In ihr artikuliert sich Fausts steile Ambivalenz zwischen einem pneumatischen Seelenaufstieg zu "Himmelsglanz" und einem Dasein als "Erdensohn," zwischen "Götterleben" und ungewissem "Menschenlos," prometheischen "Taten" und kreatürlichen [End Page 103] "Leiden," zwischen "Trug und Wahn" und "Erstarren in dem irdischen Gewühle," zwischen "kühnem Flug … zum Ewigen" und dem Scheitern "im Zeitenstrudel" (640-41).

Die auch dem pessimistischsten Gnostiker anstehende Metaphorik in der Schmähung der Welt spiegelt sich in der Verachtung des leibgebun-denen Selbst, das 'dieser Welt' nicht zu entkommen vermag: so ist die Rede von "Regenwürmer[n]," vom Ich als "dem Wurme…, der den Staub durch-wühlt," vom "Trödel, der mit tausendfachem Tand / In dieser Mottenwelt mich dränget? / Hier soil ich finden, was mir fehlt?" (653-54) So fragt sich Faust und sucht sein gnostisches Glück in einer imaginativen Himmelfahrt, welche diejenige nach seinem Tod46 antizipiert:

"Auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen, / Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit. / Dies hohe Leben, diese Götterwonne! / Du, erst noch Wurm, und die verdienest du? / Ja, kehre nur der holden Erdensonne / Entschlossen deinen Rücken zu! / Vermesse dich, die Pforten aufzureiβen, / Vor denen jeder gern vorüberschleicht. / Hier ist es Zeit, durch Taten zu beweisen, / Όαβ Manneswürde nicht der Götterhöhe weicht, / Vor jener dunklen Höhle nicht zu beben, / In der sich Phantasie zu eigner Qual verdammt, / Nach jenem Durchgang hinzustreben, / Um dessen engen Mund die ganze HöËe flammt; / Zu diesem Schrift sich heiter zu entschliefien, / Und wär es mit Gefahr, ins Nichts dahinzuflieβen."

(705-19)

Die sich an der Todesphantasie entzündende Erlösungshoffung entwick-elt eine gnostische Perspektive darin, dass sie sich aus der Abkehr von der göttlichen Erdensonne und unter Hinwendung auf einen wissenden Zusammenschluss mit dem Göttlichen auβerhalb dieser Welt verfestigt.47 Die aus der Entschlossenheit zum Sterben entfesselten Levitationsphantasien ("Ein Feuerwagen schwebt, auf leichten Schwingen," 702) weisen auf die Schwermut unerträglich gewordener Daseinsisolation, das "Nichts" zurück. Zugleich weisen sie voraus auf die himmlische Stimmung und finale Souveränität (Götterwonne, Götterhöhe) des "hohe[n] Leben[s]," welches Faust nach dem todesverachtenden Durchgang durch die Höllenpforte erwartet (706). Der vom Erdendasein befürchtete Flammenhorror wird von einer präsuizidalen Ekstase ausgelöscht, die sich als Selbstfeier ("Festlich hoher GruB") des im existenziellen "Nichts" zu sich kommenden Geistes ("Morgen") zu empfinden weiB.48

Diese genuin gnostische Wiedergeburtseuphorie hebt aus einer Stim-mungserinnerung an, die im Willen zum Sterben an die Erfahrung ursprünglicher Geborgenheit rührt. Fausts Tbdeswunsch schlägt in Lebensemphase um. Die finale Transgression der Beschränkung seines Daseins konvertiert zur initialen Transzendenz desselben. Faust vernimmt im Schmerz existentialer Unerträglichkeit den ihn erwählenden "Ruf von außerhalb" (Jonas, Gnosis, 120–21), jenem Ort einer fremden Heimat. So intonieren die Osterglocken das gnostische Motiv einer erleuchtenden Heilsgewissheit, welche ihm fortan die Kraft zur "Negativierung der Welt"49 geben wird, und zwar auch dann noch, wenn diese nicht wie jetzt verzweifelt, sondern später auch lustvoll erfahren wird. [End Page 104]

VIII. Gretchentragödie

Diese Schmerz und Lust transzendierende Perspektive entfaltet sich, wenn die Gelehrtentragödie sich zur Gretchentragödie ausweitet. Zwar ringt Faust in dieser um eine erfahrungssinnlich konkretisierte Erkenntnis, indem er sich in der Geliebten erneut der lebendigen Natur zuwendet. Das Einlassen auf die Natur als neuplatonisch-gnostisch gedachtem Prozess der Emanation aus einem guten Gott, entfernt hier jedoch von diesem, insofern alle durch die Erotik ausgelösten naturmystischen Aufschwünge schließlich Niedergänge bewirken, erst denjenigen Margarethes, dann denjenigen Fausts. Nur vorübergehend schlägt im Liebesdrama noch einmal das pantheistische Moment der Involvierung Gottes in die Natur und umgekehrt durch, wobei wie beim Erdgeist die Figur der Prosopopeia die neuplatonisch-pythagoreische Geistesverwandtschaft rhetorisch inszeniert: "Lehrst mich meine Brüder / im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen" (3226).

So scheint sich zugleich die ersehnte Involvierung des Selbst in die Welt zu erfüllen, wenn in Wald und Höhle sich ein erfahrungsgesättigter und für Faust darin neuer paradigmatischer Kern möglichen Wissens herausschält. Seine gnostische Negation der Welt und das ihr entsprechende geistige Selbstverständnis scheinen sich in der Erfahrung der Liebe zur wahrnehmungsästhetisch fundierten Erkenntnis zu verwandeln, in welcher die Transzendenz Gottes noch einmal in der phänomenalen Welt aufscheint. Die sexuelle Erfahrung mit Gretchen—mikrokosmologisch: der Sündenfall—ist so auch reflexive Erkenntnis der Welt, welcher makrokosmologisch der Fall Luzifers entspricht.50 Bei dieser Weltberührung steht das Selbst der Natur nicht mehr objektivierend gegenüber, sondern erfährt sich als Teil derselben. Diese andere Erkenntnis verspricht also die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Dualität mit sich und zielt in Richtung einer Überwindung oder aber einer optimistisch-symbollogischen Gnosis, wie sie als spirituelle Dimension des Pantheismus schon in der Erdgeistbeschwörung aufblitzte. Wie dort die das beschworene Aufgehen des vereinzelten Ich im Naturganzen ein abruptes Ende findet, so fürchtet Faust auch hier ein Scheitern der ewigen "Wonne" der Entselbstung in der Hingabe im anderen: "Ihr Ende würde Verzweiflung sein. / Nein, kein Ende! Kein Ende!" (3194). Dessen Unvermeidlichkeit ist indes nur ein Eingeholtwerden von der Ausgangslage, die noch die Liebe reflek-tierend in Fausts existentielles Gefühl des "Nichts … wandelt" (3245–46).

Der Dramaturgie des Textes folgend, wie auch der seiner Vorgänger,51 kommen diese Versuche einer ambivalenzfreien Weltzuwendung allerdings zu spät. Denn es erfolgt unter der Regie eines demiurgischen Agenten, welche alles noch so göttlich anmutende Geschehen samt dem von Gretchen figurierten Erdendasein des Menschen (im gnostischen Sinne des Psychikers) mit negativem Vorzeichen versieht. Gewissermaßen "immer schon" macht der "übersinnliche sinnliche Freier" (3534) seine Erfahrungen nurmehr auf der nihilistischen Basis, die sich in einem irreduziblen Mindestabstand zur Sinnenwelt befindet. Seit dem Scheitern seiner eigenen Ganzheits- und Transzendierungsbestrebungen bezeugt jeder weitere Bewusstseinsakt nur seine partikulare Vergeblichkeit im Zeichen des Bruches mit der Welt. Im zynischen Pakt mit Mephistopheles können ein Sinn oder Wert im Handelnund [End Page 105] der Welt nicht mehr gefunden, sondern allenfalls selber, d.h. voluntaristisch gestiftet werden. Der Fausts rasanten Weltgang einleitende und fortführende Geist der Verneinung des Bestehenden unterstellt alles Welterleben dem eigenen Willen, jede Zwecksetzung bestärkt die eigene Macht: "Im Anfang war die Tat" (1237) ist als biblische Übersetzung52 auch Ausdruck von Fausts Kontingenzerfahrung und dem daraus entspringenden Machtwillen: die Totalnegativierung der Welt als altgöttlicher Schöpfungsleistung wird zur Absolutierung des Selbst als Subjekt eines kreativen Hyperaktivismus.

Die nihilistischen Bedingungen, die im Eingangsmonolog reflektiert und in der Suizidphantasie existenziell verinnerlicht werden, versetzen Faust in die antinomische Freiheit, alles tun zu dürfen solange er nur will. Und er kann es durch Mephistopheles' Hilfe, die ihm die Macht verleiht, seinen Willen beliebig durchzusetzen. Diesem amoralischen Willen zu wollen nachgeordet sind seine Gefühle in der Beziehung zu Margarete, insofern die in ihr verlebendigte Naturerfahrung zur Gelegenheit vereinseitigter Selbsterfahrung verkommt. Zwar will Faust lieben und verzweifelt Teil dieser Welt werden, aber wohl wissend, es seit dem Teufelspakt nicht mehr zu können. Denn seit Fausts lebensrettendem "Umsturz nach innen" (Macho, n. 16, 484) in jener Osternacht kann diese Welt—mephistophelisch als gute Schöpfung negiert—keine Normen oder Werte für ihn mehr verbindlich und nicht einmal ihre Reize genießbar machen: "Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!" (409).

Sein Parcour durch die kleine Welt ist abgesteckt von deren gnostischer Verachtung, seine gesetzlose Freiheit ist Ausdruck verzweifelter Isolation, die Missachtung sittlicher Moral und gesellschaftlicher Norm erfolgen aus dem Umschlag von asketischer Weltlosigkeit in libertinistische Zwanghaftigkeit: "Er facht in meiner Brust ein wildes Feuer / Nach jenem schönen Bild geschäftig an. / So tauml' ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde" (3250). Unter Führung durch Mephistopheles als dem negativistischen Selbst von Fausts Existenz sind Grenzüberschreitung, Exzess und Untreue nicht nur ermöglicht, sondern geboten.

Erst der sollensmoralisch enthemmte Genuss der Welt wird zur positiven Bestätigung von Fausts extraterritorialem Status. Zwar ist dieser nicht im marcionitischen Sinne der Gnosis in geistiger Transzendenz bereits konsolidiert, die es erlauben würde, mit dem Schleier der Maya einer Welt zu spielen, deren Gesetze für den Pneumatiker nicht gelten. Das spekulative Wissen aber um seine wesentliche, nämlich die geistverbundene seiner zwei Seelen betreffende Unzugehörigkeit zur Welt, disponiert ihn zu einer revisionären und amoralischen Weltfahrt, auf der nichts, wenn nicht das Nichts selbst, zur Erfahrung von Glück werden kann. Die durch die körpergebundene Seele hindurch in ihrer Abgespaltenheit erfahrene Welt macht die Spaltung von Geist und Materie als Selbstspaltung spürbar. Die entsprechende Tendenz zu transmundaner Selbstbestimmung und deren nihilistische Konsequenzen aber machen Faust zu einem neuzeitlichen Gnostiker.

IX. Wette

Ein solcher konnte Faust auf dem Weltgang nur bleiben, indem er die berü hmte Wette eingegangen ist, ohne auch—wie schon der Herr im Prolog—deren Wettcharakter [End Page 106] überhaupt anzuerkennen. Denn die Wette ist nicht mehr als eine gnostische Variation des eher christlichen Teufelspaktes, allenfalls dessen Ergänzung. Sie schreibt die Verbannung in diese Welt bis in deren Genuss hinein fest und lässt dem Verbannten doch einen Ausweg zur Erlösung. Dieser vergeht sich nämlich allenfalls an einer ohnehin demiurgisch degradierten Schöpfung und bestätigt dadurch nur noch seine innere Orientierung am transzendenten Heilsgott. Die Hilfe zur Erlösung, die Faust sich dabei von Mephistopheles verspricht, besteht darin, dass dessen purgatorisches Expertentum eine Maximierung sündhafter Erfahrungsmöglichkeiten und allererst den Zugang zu Wirklichkeitsbereichen des Bösen gewährleistet. Denn nur das restlose "Durchschmarutzen" (2054) des kleinen Weltkurses bietet auch die Gelegenheit zur Relativierung alles Hedonistischen. Erst durch das Begehen der Sünden (Mord, Wollust) mit innerer Reflexionsdistanz lässt sich ihnen der Stachel metaphysischer Strafandrohung ziehen.

"Ursprung ebenso wie Folge des Paktes, geradezu sein Medium," ist nach Schings (Anm. 47, 102–5) indes "Fausts Verzweiflung," welche mit der Wette weltanschaulich fixiert wird. Erst mit ihr ist Faust der tragischen Drift ins Nichts einer sinnlosen Zeitlichkeit programmatisch schon auf Erden verfallen. Denn nach ihr soll und kann es die beglückende Erfahrung gesammelter Gegenwart nicht mehr geben, jede Befriedigung nur noch gesteigerte Begierden hervortreiben, Rastlosigkeit das Zeichen der Verfallenheit an eine sinnlose Welt sein. Schließlich aber ermöglicht allein eine erfahrungsgesättigte Weltresistenz das Wirklichwerden des Pneuma-Selbst und damit dessen Heimkehr ins Andere.

Wenn Faust eher mit sich selbst als mit Mephistopheles darauf wettet, dass er niemals den Augenblick würde genießen können, betrügt er Mephistopheles eigentlich um seinen Einsatz, der einen reflexiv ungebrochenen Willen zum Genuss voraussetzt. Die ihm in seiner geistigen Existenzreserve endgültig inne gewordene Unweltlichkeit verleitet Faust erst zu jener prätentiösen Überlegenheit, aus der heraus er diese Welt als be reits hinreichende Bedingung der Unmöglichkeit von wahrer Erkenntnis und transzendenzfähigem Genuss betrachtet. Einen solchermaßen gesteigerten, d.h. ewigen Verweilens würdigen Augenblick kann es nicht geben: nicht weil Fausts strebensethisches Selbstverständnis ihn vor Untätigkeitslust bewahrt, sondern weil er um das weltflüchtige Motiv in seinem Streben weiß, welche dasselbe zu einem Streben nach göttlicher Erkenntnis als individuelle Erlösung macht.

Vom Weltgang mit Mephistopheles hat Faust also nichts zu fürchten. Er kann indes erhoffen, dass sich das Böse durch die rücksichtslose Welterfahrungsoffenheit des "Allesdurchmachens" (Sloterdijk [Anm. 29] 45) schwächen und heilsnotwendiges Wissen erlangen lässt. Mit der Wette ist für Faust auch nichts zu verlieren. Sein Einsatz ist das Nichts, als das er seine Existenz empfindet. Erst von diesem scheinbar nichtigen, indes erst dadurch existenziellen Spieleinsatz aus eröffnet sich die Entweltlichungsperspektive gnostischer Selbsterlösung.53 Diese wird im zweiten Teil die christliche Heilserwartung individualisieren und—siehe Fausts Nicht-Verdammnis und "Gewinn" der Wette—durch das anthropologische Selbstverständnis einer Moderne ersetzen, nach welchem die geistige Existenz sich durch Subjektivierung der Vielheit ihrer Weltbezüge sammelt. [End Page 107]

X. Schluss

Es gibt keine analogisch verfahrende Deutung des Faust, die letzteren auflöst zu einer Neuauflage eines mythischen Vorgängers, seien diese Luzifer, Prometheus, Salomon, Adam, Hiob, König David, König Ahab oder der legendäre Faustus selbst.54 Fausts Charakter insgesamt geht auch nicht im Geistselbst eines Gnostikers auf, wie immer ein solcher typologisiert werden mag. Mit der eklektizistischen Fülle mythologischer Anspielungen erfüllt Goethe Herders Forderung nach einem neuen, freier aneignenden, kulturell aktualisierenden und das heißt im Poetischen: synkretistischen Gebrauch der Mythologie. Die daraus entstandene Faust-Poetik beinhaltet eine heterodoxe und asystemische Metaphysik, die vor weltanschaulichen Nostrifizierungen und quasi-identifikatorischen Kurzschlüssen bewahren sollte.55 Zugleich ermutigt die sublime Bezugsvielfalt zu immer neuen Kontextualisierungen oder Analogiebildungen, wie es hier mit der Gnosis versucht wird, insofern diese über ihren historischen Kernbestand hinaus zur Interpretationskategorie für metaphysische Konfigurationen bis in die Neuzeit taugt. Das Ergebnis eines solchermaßen nicht historischen, sondern heuristischen Ansatzes und damit auch der literaturwissenschaftliche Wert dieses analogischen Deutungsversuchs können also nicht hinsichtlich einflussphilologischen Erkenntnisgewinns taxiert werden, sondern sind allein hermeneutisch zu ermessen.

Der hermeneutische Gewinnzug einer gnostischen Lektüre des Faust aber besteht darin, dass sie (1.) dessen tendenziell akosmischen Dualismus zu erkennen hilft, der den pantheistischen, monistischen und von erotischer Naturerfahrung getragenen Aufschwüngen seines Selbst vorausliegt; (2.) Fausts anfangs bis an die Grenze des Suizids reichende pessimistische Daseinshaltung aus einem metaphysischen Nihilismus erklären kann, auf den der neuzeitliche Magister aus Wissensanzweiflung und epistemologischer Weltabstraktion rekurriert; und (3.) dass dieser Skepsis entspringend der Erkenntnisdrang auf ein Heilswissen zielt, von dem der Teufelsbündner weiß, dass es auf dem Weltgang nur ex negativo zu erlangen ist, d.h. Gretchen wird nicht der reinen Lust wegen erobert (und verlassen), sondern um aus der Aufhebung der Distanz zur Sinnenwelt den erlösenden Impuls zur Transzendierung des Selbst zu empfangen; und deshalb (4.) der erst asketische dann libertinistische Faust mit der Wette insgeheim kein eigenes Risiko eingeht—nämlich aus latentem Nihilismus.56

Im Sinne von Weltnegativismus ist letzterer die intellektuelle Kehrseite seines als Heilssuche kaum verschleierten Erkenntnisstrebens,57 seiner aktivistischen Verblendung, und er bestätigt sich konsequenterweise in deren Manifestation als Erblindung. Mit dieser straft ihn am Ende des zweiten Teiles die allzu lang ignorierte Sorge, deren Macht Faust sich doch vom präsuizidalen Anfang an eigentlich bewusst war. Sein Erkenntnis und Selbsterkenntnis suchender Geist wird zuletzt durch die Todes- und Weltangst der rückhaltlosen Erlösungsvision beraubt. Zugleich findet Faust die göttliche Gnade der Erlösung aus dem irdischen Irren, indem er über dieses qua irrendem Streben nach Erkenntnis—im Sinne der christlichen Gnosis58—hinaus geführt und so ins Himmelreich zurückgeführt wird. [End Page 108]

Jene die Anfangsszenen durchziehende dualistische Stimmung der Verlorenheit wurde hier zusammen mit Fausts verzweifelter Selbst-Bestimmung als ein metaphysisches Reaktionsmuster gedeutet, welches sich nach Jonas in der Spätantike mit dem Unwirklichwerden des griechischrömischen Kosmos herausgebildet hat. Dieses die Faustfigur ebenso metaphysisch wie existentiell dimensionierende Proto-Gnostische wurde als ein in der Forschung weitgehend vergessener Nihilismus diagnostiziert, der seither in Entfremdungserfahrungen wiederkehrt, welche die Welt als Ganzes umfassen, oft eine weltflüchtige Erlösungssehnsucht bewirken und sich zu weltanschaulichem Dualismus verhärten kann.

Wenn die hier vorgeschlagene Lesart Goethes Dichtung kulturgeschichtlich so weit zurückbezieht und ihre Fragen an sie ins abwegige Gelände spätantiker Gnosis zurückführen, dann geschieht dies also nicht, um Deutungen zu widerlegen, die Fausts Repräsentativität als neuzeitlichen Menschen herausstellen.59 Vielmehr geht es um eine Ergänzung derselben um die gnostische Negativität, wie sie dem Faustischen als neuzeitlichem Erkenntnisstreben nach dem Ganzen inhärent ist. Es scheint mir der Zuwachs an psychodramatischer Plastizität der Faustfigur, der durch ihre gnostische Kontextualisierung erzielt wird, dieselbe bereits im ersten Teil als ein Scharnier zwischen antiker und neuzeitlicher Daseinsverfassung verdeutlichen zu helfen.

Während mit der Säkularisierung im kollektiven Horizont das Heilsgeschichtliche eschatologisch grundierten Geschichtsphilosophien eingeschrieben bleibt, zeigt seine Dramatisierung im ersten Teil des Faust eine anthropologische Wendung des Erlösungsgedankens an einem Protagonisten, der als repräsentatives Individuum gekennzeichnet ist. Dieser Fortbestand individueller Erlösungshoffnung auf dualistischer Basis, aber unter neuzeitlichen Bedingungen, ist in Fausts poetisch-synkretistischem Design durch dessen gnostische Weltbildkomponenten organisiert. Denn es bildet die Gnosis die paradigmatische Form für Fausts Streben nach Erkenntnis, die zugleich Erlösung ist. Überhistorisch perspektiviert ist die Gnosis das Modell für Fausts existentiellen Versuch, die Erfahrung der Welt und ihrer Kontingenz zur Ganzheit eines transzendenten Selbst zu reintegrieren.

Damit rückt Goethes Gnostiker die beginnende Moderne in eine ihr kaum bewusste Nähe zu einer anderen Antike. Verstanden als gnostische Entfremdungs- und Erlösungstragödie erinnert Faust zugleich an den nach erfolgreicher Aufklärung nur noch gesteigerten Bedarf an Reflexion auf Sublimationsformen heilseschatologischer Erkenntnissuche.

Stefan Hajduk
Mary Immaculate College, University of Limerick

Notes

1. Zitate aus Goethes Faust werden direkt im laufenden Text in Klammern nachgewiesen (arabische Ziffer = Verszahl); und zwar nach der Hamburger Ausgabe Bd. 3; weitere Texte von Goethe werden, wenn nicht anders angegeben, auch im Text nachgewiesen mit der Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. E. Trunz (1950 ff.), abgekürzt: HA. Demselben Schema entsprechend wird zitiert nach WA = Weimarer Ausgabe. [End Page 109]

2. "Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, /Will ich in meinem innern Selbst genießen / […] und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern" (1774).

3. R. C. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe: Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts (München: Fink, 1969).

4. "Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah" (HA 9:350). Vgl. im Kontext H.-J. Schrader und K. Weder, Hg., Von der Pansophie zur Weltweisheit: Goethes analogisch-philosophische Konzepte (Tübingen: Niemeyer, 2004) x.

5. Auf beides gehen die Kommentare jüngeren Datums ausführlich ein: U. Gaier, Johann Wolfgang Goethe: "Faust, Der Tragödie Erster Teil" (Stuttgart: Reclam, 2001); J. Schmidt, Goethes "Faust, Erster und Zweiter Teil": Grundlagen—Werk—Wirkung (München: C. H. Beck, 1999); A. Schöne, Johann Wolfgang Goethe: "Faust," Kommentare (Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1994).

6. Diese sind überdies durch gemeinsame Themen wie neue Kosmologie, Weltangst und eine Neuinterpretation der christlichen Überlieferung verbunden.

7. Vgl. C. Markschies, Die Gnosis (München: C. H. Beck, 2006) 7–8, 26–41.

8. Vgl. Markschies 9–30; C.-F. Geyer, Die Gnostiker der Spätantike, in Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, hg. v. P. Koslowski (Zürich/München: Artemis, 1988) 41–59; zur "Bruchstückhaftigkeit der Überlieferung der gnostischen Texte" als "Merkmal der Gnosis" und damit "die Gnosis als vor allem anderen synkretistisches Gemisch" (44–45).

9. Vgl. Zimmermann (n. 3); G. Kaiser, "Goethes Faust und die Bibel," Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984): 391– 413, hier 402; M. Wyder, Goethes Naturmodell: Die Scala Naturae und ihre Transformationen (Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 1998). Besondere Beachtung hat das in Dichtung und Wahrheit erwähnte alchemistische Werk Georg von Wellings: Opus magico-cabbalisticum et theosophicum gefunden. Dieses macht zur Grundlage sein­er Faustdeutung von E. v. Löw, Strukturen in Goethes "Faust" (Hürtgenwald: Pressler, 1981)   37–53.

10. R. Ilgner, Die Ketzermythologie in Goethes "Faust" (Herbolzheim: Centaurus, 2001) 77–87.

11. H. Bayer, "Goethes "Faust," Religiös-ethische Quellen und Sinndeutung," Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1978): 173–224; A. Schöne, Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult: Neue Einblicke in alte Goethetexte (München: C. H. Beck, 1982) 143–44, 205–16.

12. Dem historisch uneinheitlichen, nicht ohne typologische Konstruktionen zugänglichen Phänomen Gnosis entspricht die Pluralität der Forschungsansätze zur Gnosis. Vgl. Markschies (Anm. 7) 34–35; Geyer (Anm. 8) 42 spricht von der "Pluriformität" des "Gnostizismus" und seiner Rezeptionsgeschichte.

13. Allerdings hat es immer wieder Identifikationsversuche der Gnostik gegeben, etwa mit Fichte, Schelling und Hegel bei F. C. Baur, Die christliche Gnosis oder die christliche Religions-Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Darmstadt: WBG, 1967); mit von Baader im 19. Jahrhundert oder mit R. Steiner und C. G. Jung im 20. Jahrhundert, bei Koslowski, Mystik und Koslowski, Hg., Philosophen der Offenbarung: Antiker Gnostizismus, Franz von Baader, Schelling (Paderborn/ München: Schöningh, 2001). Koslowski sieht die Neuzeit insgesamt als epochalen Ausdruck des Gnostizismus, wie schon Eric Voegelin, "Wissenschaft, Politik und Gnosis," in Weltrevolution der Seele, Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis, hg. v. P. [End Page 110] Sloterdijk und T. H. Macho (Zürich: Artemis & Winkler, 1993) 214–15. Hingegen versteht H. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985), die Neuzeit als Antwort und zweite Überwindung der Gnosis, wie es kritisch diskutiert wird bei J. Taubes, Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um Marcion, einst und heute, Religionstheorie und politische Theologie (München: Fink, 1984) 9–15. Hierzu auch das Kapitel Streit um die gnostische Moderne in Sloterdijk und Macho 214–40.

14. Einen materialreichen und philosophisch reflektierten Einblick in das weitverzweigte Fortleben der Gnosis auch in literarischen Formen bis in die Gegenwart bieten Sloterdijk und Macho (n. 13). Während letztere sich näher von der an Heidegger orientierten Studie von H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Teil I 1988 [1934], Teil II 1993 [1934]) inspiriert zeigen, geht zuletzt C. O'Regan, Gnostic Return in Modernity (New York: New York Press, 2001) wieder mehr von der früheren der zwei maßgeblichen Gnosisdeutungen aus, nämlich von F. Chr. Baurs an Hegel orientiertem Werk von 1835 (Die christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung), das die Gnosis bis hinein in neuzeitliche Kontexte reflektiert.

15. Er zielt damit auf die Deutung einer esoterischen Grundidee des Faust als häretischem Mysterienspiel, deren von Goethe unkenntlich gemachten Gestaltungselemente er entnommen sieht aus der "neuplatonischen und pythagoreischen Vorstellungswelt (Plotin, Porphyrios, Iamblichos), … der manichäischen und pelagianischen Religiosität, ferner der neuplatonisch beinflussten Theologie bzw. Mystik Gregors von Nyssa und Gregors des Großen (Christlicher Neuplatonismus), der Dämonologie des byzantinischen Neuplatonikers Michael Psellos sowie der Alchemie des Paracelsus, schließlich der pantheistischen Naturphilosophie des am 9. Februar 1619 in Toulouse als Ketzer verbrannten italienischen Philosophen Giulio Cesare Vanini" (Bayer 174). Es geht dabei neben der Erläuterung der "religiös-ethischen Konzeption der Faustdichtung" (Bayer 187) aus dem Interesse Goethes an diesem Material vor allem um den Nachweis der Rezeption von entsprechenden Primär- und Sekundärtexten.

16. Siehe hierzu K. Rudolph, Hg., Gnosis und Gnostizismus (Darmstadt: WBG, 1975) und zu einer gegenwartsnahen Diskussion der Gnosis ohne Bezug zu Faust T. H. Macho, "Umsturz nach innen. Figuren der gnostischen Revolte," in Sloterdijk und Macho (Anm. 13) 484–521, 486–87; ferner L. Scholz, "Gnosis und Globalisierung," Weimarer Beiträge 3 (2007): 340–59. Eine gegenwartsbezogene Deutung des Faust ohne Bezug zur Gnosis, aber mit einem Fokus auf eine negativistische Haltung siehe bei M. Jaeger, Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart: Zur Aktualität Goethes (Berlin: WJS, 2008).

17. An Jacobi, 6. Januar 1813 (WA IV, 23, 226f.), zit. n. J. Hörisch, "Religiöse Abrüstung: Goethes Konversions-Theologie," in Spuren, Signaturen, Spiegelungen: Zur Goethe-Rezeption in Europa, hg. v. B. Beutler und A. Bosse (Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000) 31–44, 34.

18. Geyer (Anm. 8) 42 wendet sich gegen die von ihm konstatierte "Überbewertung eines die Gnosis vermeintlich primär kennzeichnenden Dualismus und macht dage­gen die religionsgeschichtliche Betrachtungsweise stark, nach der Gnosis historisch die "Radikalisierung … des hellenisierten Christentums" war und noch bis heute ihre philosophische Bedeutung im Reflexivwerden des Religiösen hat. Siehe in diesem Kontext auch die These der Gnosis als "akuter Hellenisierung" bzw. "Säkularisierung des Christentums" (55, 163–64) bei A. v. Harnack, "Die Versuche der Gnostiker, eine apostolische Glaubenslehre und eine christliche Theologie zu schaffen, oder: die akute Verweltlichung des Christentums," in Rudolph (Anm. 16) 142–73. Es argumentiert [End Page 111] indes gegen die denkgeschichtlich wirkungsmächtige Denunzierung des gnostischen Dualismus, die letztlich dazu geführt habe, dass heute der "Zauber der Andersheit exterminiert," der "Horizont möglicher Offenbarungen versperrt" ist, Macho (Anm. 16) 495–96.

19. G. Quispel, "Gnosis als Weltreligion," in Sloterdijk und Macho (Anm. 13) 242–44.

20. Vgl. H. Jonas (Anm. 14); H. Jonas, "Gnosis, Existentialismus und Nihilismus," in ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1963) 5–25 und H. Jonas, "Typologische und historische Abgrenzung des Phänomens der Gnosis" [1966/67], in Rudolph (Anm. 16) 626–45.

21. Sloterdijk (Anm. 13) macht im Zusammenhang seiner psychohistorischen Grundlagenreflexion der Gnosis auf die geringe "interpretative Ausbeute aus der archäologischen Sensation" von Nag-Hammadi aufmerksam. Die exegetische Dimension der Forschungslage habe sich nach 1945 kaum erweitert, sodass auch weiterhin zu erwarten sei, "daß große Einsichten in das Wesen gnostischen Denkens eher in Abhängigkeit von den maßgeblichen philosophischen Selbstdeutungen der Neuzeit entstehen als in der Folge von noch so imposanten philologischen Entdeckungen" (17–27).

22. Zur biblischen Lesart und ihrer Bedeutung für die Wette im Faust siehe Kaiser (Anm. 9) 396–97.

23. Zur Theodizee im Prolog siehe A. Henkel, "Mephistopheles—oder der vertane Aufwand," in Gegenspieler, hg. v. T. Cramer und W. Dahlheim (München: Hanser, 1993) 130–47. Außerdem E. Franz, Mensch und Dämon: Goethes "Faust" als menschliche Tragödie, ironische Weltschau und religiöses Mysterienspiel (Tübingen: Narr, 1953) 218–30; W. Schultz, "Die Korrektur des Weltbildes der Theodicee bei Leibniz durch Kant und Goethe und das moderne Denken," Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 9 (1967): 173–200. In der Thematisierung des Bösen als Mephistos "eigentliches Element" bei P. Michelsen, Vom Bösen in Goethes "Faust": Im Banne Fausts. Zwölf Faust-Studien (Würzburg: Königshausen & Neumann 2000) 185–89 wird die Funktion "dualistisch-manichäischer Vorstellungen zweier per­manent miteinander im Kampf liegender Urprinzipien" bemerkt, jedoch wird die konzeptionelle Bedeutung des vermeintlich allzu "geheimnislosen Dualismus" anschließend verworfen. Zum Thema des Bösen im Faust siehe ferner A. Weber, Goethes "Faust": Phänomene—Probleme—Perspektiven (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005) 126–60. Macho (Anm. 16) 498–99. wendet sich im Kontext der Gnosis überzeugend gegen die Auffassung des Buches Hiob als Vorläufer der Theodizee im neuzeitlichen Sinne Leibniz'.

24. "Denn alles was entsteht / Ist wert daß es zugrunde geht" (1339–40).

25. Marcion, nach Tertullian, Adversus Marcionem, I 17. Zit. n. Jonas (Anm. 14) 156.

26. Ausgehend von begrifflichen Verwendungen wie hier und im Vorspiel auf dem Theater der des Himmelslichts arbeitet Kaiser (n. 9) 394 die strukturelle Bedeutung der Bibel sowie der theologischen Tradition für die Konzeption des Faust heraus.

27. J. W. Goethe, "Faust": Paralipomena (Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, 1990) 449– 50.

28. A. Schöne (Anm. 11) 107–216, 255–65 erläutert die Gesamtkonzeption vor dem Hintergrund der "dualistischen Theologie der großen Ketzerbewegung," indem er die Paralipomena und die unterdrückten Walpurgisnacht- und Satanspassagen unter kom-positorischen Aspekten in seine Deutung integriert (204ff.). Auch wenn die von Schöne angeführten Gründe für die Streichung der Satansmesse, nämlich solche der moralisch-sittlichen Rücksichtnahme auf das zeitgenössische Lesepublikum, fragwürdig [End Page 112] erscheinen können (vgl. Michelsen 184f.), so bleibt doch die Rekonstruktion einer ursprünglich kontrapunktischen Grundkonzeption überzeugend. Diese hätte es entsprechend der gnostischen Zwei-Götter-Lehre vorgesehen, dem guten und ja auch durchaus nicht allmächtigen Erlösergott aus dem Prolog im Himmel den "pervertierte[n] Advent Satans als des häretischen Gegengottes" entgegen zu setzen: "Gewiss er wird als Sieger kommen" (Paralipomenon 49 bei Schöne, Götterzeichen, 151, vgl. 205). Schönes struktureller Aufwertung des Bösen "als des souveränen Gegenspielers Gottes" entspricht dann die "Darstellung des Satanskultes und Hexensabbats auf dem Blocksberggipfel als einer häretischen Kontrafaktur des christlich-kirchlichen Kultus: dieser gnostisch-manichäische Entwurf eines symmetrischen Dualismus, welcher das Gute und das Böse (Gott und die Hyle) als selbstständig einander gegenüberstehende und einander widersprechende Prinzipien zu begreifen suchte" (205, vgl. 143). Der solchermaßen für die Dramaturgie maßgebliche "symme­trische Dualismus" läge damit Fausts Herumirren durch die Welt zu Grunde, "wahrhaftig zwischen Gott und Gegengott gestellt, den einander widerstreitenden Urprinzipien des Guten und Bösen ausgeliefert" (207). Siehe hingegen die dualismuskritische Gegenposition bei T. Zabka, "Dialektik des Bösen: Warum es in Goethes Walpurgisnacht keinen Satan gibt," Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998): 201–26.

29. P. Sloterdijk, "Die wahre Irrlehre: Über die Weltreligion der Weltlosigkeit," in Sloterdijk und Macho (Anm. 13) 17–54.

30. "Der innere, pneumatische Mensch findet sein Genügen nur in der Erkenntnis des Ganzen, und das ist die wahre Erlösung." Irenäus, "Adversus haereses" I 21, 4, in Die Gnosis: Koptische und mandäische Quellen, hg. v. W. Foerster u.a. (Zürich/Stuttgart: Artemis, 1995) 285. Übersetzung modifiziert und zit. n. Koslowski (Anm. 13) 369.

31. Diesen wichtigen Apekt hebt die Faustdeutung von P. Matussek, Goethe zur Einführung (Hamburg: Junius, 1998) hervor.

32. Siehe zu Goethes religiöser Dimensionierung der Natur P. Hofmann, "Goethes Theologie der Natur," Goethe-Jahrbuch 116 (1999): 331–44.

33. Zum Magnetismus und seiner Bedeutung für Goethe siehe J. Barkhoff, "Tag- und Nachtseiten des animalischen Magnetismus: Zur Polarität von Wissenschaft und Dichtung bei Goethe," in Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hg. v. P. Matussek (München: Beck, 1998) 75–100; ferner K. Weder, "Sympathetische Verbindung: Zum Magnetismus in der Natur, zwischen Körpern und Seelen bei Goethe," in Schrader und Weder (Anm. 4) 147–72.

34. Hierzu R. C. Zimmermann, "Goethes Verhältnis zur Naturmystik am Beispiel seiner Farbenlehre," in Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt, hg. v. A. Faivre und R. C. Zimmermann (Berlin: Schmidt, 1979) 333–63. Zu Faust im Verhältnis zur Farbenlehre siehe auch P. Hofmann, Goethes Theologie (Paderborn u.a.: Schöningh, 2001) 178–87.

35. G. Böhme, Goethes "Faust" als philosophischer Text (Kusterdingen: Die Graue Edition, 2005) 37.

36. J. Schmidt, "Faust als Melancholiker und Melancholie als strukturbildendes Element bis zum Teufelspakt," Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 41 (1997): 125–39.

37. A. Wachsmuth, Geeinte Zwienatur (Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1966); Bayer (Anm. 11), Zimmermann (n. 3), P. Matussek, Naturbild und Diskursgeschichte: "Faust"—Studie zur Rekonstruktion ästhetischer Theorie (Stuttgart: Metzler, 1992).

38. G. Kaiser, Ist der Mensch zu retten? Vision und Kritik der Moderne in Goethes "Faust" (Freiburg im Breisgau: Rombach, 1994) 17. [End Page 113]

39. Was gnostische Erkenntnis von rationaler unterscheidet zeigt sich vor allem im Übergang von den experimentelen Praktiken des Naturforschers zu den intuitiven des Makrokosmus-Sehers und den mystischen des Erdgeistbeschwörers. R. Bultmann, "Artikel Gnosis," in Theologisches Wörterbuch I (Stuttgart: Kohlhammer, 1949–59) 688–719, erklärt Gnosis als "ekstatische oder mystische Schau, und insofern ist das Erkennen immer noch als eine Weise des Sehens verstanden, freilich im Sinne der Mysterienschau." Zit. n. R. Weber, Gottfried Benn: Zwischen Christentum und Gnosis (Frankfurt am Main: Lang, 1983) 50.

40. Hierzu ausführlich mit Bezug auf die theosophische Tradition K. Pestalozzi,'"… dieses Ganze | | ist nur für einen Gott gemacht': Zum Problem des Ganzen bei Goethe (mit Bliek auf Karl Philipp Moritz)," in Schrader und Weder (Anm. 4) 113–28.

41. Siehe insbesondere: Geistes Kraft und Mund, Pein, lieben Lichte, Wissensqualm, Kerker, Mauerloch, Himmelslicht, Würme nage, Staub bedeckt; ferner die Verwendung des Weltbegriffes: Welt, bang in deinem Busen klemmt, ein unerklärter Schmerz, Rauch und Moder, Erkennest dann der Sterne Lauf, Geister (20–22).

42. Zu möglichen Abbildungen, die Goethe vor Augen gehabt haben mag und zum alchemistsichen Kontext des Makrokosmus-Mikrokosmus-Gedankens, speziell mit Bezug auf Paracelsus siehe Böhme (Anm. 35) 61–70.

43. Im Zitat etwa die Verbindung pytagoreischer phärenharmonie mit dem Motiv der Aurea Catena Homeri, wie es Goethe von Kirchweger kannte. Dieser Hinweis ist von M. Wyder, "Von der Stufenleiter der Wesen zur Metamorphosenlehre. Goethes Morphologie und ihre Gesetze," in Schrader und Weder (Anm. 4) 32; ausführlich hierzu I. Sahmland, "'Die Natur in einer schönen Verknüpfung': Goethes Adaption der 'Aurea Catena Homeri,'" in Schrader und Weder (Anm. 4) 55–84. C. G. Jung betrachtet Goethes Drama selbst als Glied einer die Gnosis einschlieβenden Aurea Catena: "Er [Faust] ist ein Glied in der Aurea Catena, welche von den Anfängen der philosophischen Alchemie und des Gnostizismus bis zu Nietzsches Zarathustra […] eine Entdeckungsreise zum anderen Pol der Welt darstellt." Zit. n. R Bishop, "Epistemological Problems und Aesthetic Solutions in Goethe und Jung," in Goethe Yearbook 9 (1999): 278-317, 284.

44. Bayer (Anm. 11) verweist auf Plutarch: "Nach Goethes eigener Aussage hat er das Motiv mütterlicher Gottheiten Plutarch entnommen. Gespräch mit Eckermann, 10. Januar, 1830" (215).

45. "Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben! / Du muβt! du muβt! und kostet' es mein Leben!" (480).

46. Zu Fausts finaler Himmelfahrt, die Bayer (Anm. 11) 178 aus dem Theodrama der manichäischen Lehre ableitet, sowie zum Ewig-weiblichen des Gottesbildes bemerkt Kaiser (n. 9) 413: "Der katholisch-christliche Apparat dieses Dramenschlusses darf klappern, weil hier die Gleichnisstruktur radikal durchschaut sein will." Auch darin aber liegt Fausts Nähe zur Gnosis, nämlich dass beide sich über alles christlich Dogmatische und philosophisch Inkommesurable mythologisch-erfinderisch bzw. poetisch-produktiv hinwegsetzen.

47. Dies wäre auch eine Antwort auf die Frage von H.-J. Schings, "Fausts Verzweiflung," in Goethe-Jahrbuch 115 (1998): 97–123: "Faust überläβt sich einem fragwürdigen, weil weltlosen inneren Licht. Darf man schon hier an jenes Licht 'im Innern' denken (11500), das dann der Greis seiner Erblindung entgegensetzen wird?" (108).

48. Wie unverständlich Fausts positive Erwartungshaltung hier ohne die gnostische Perspektivierung bleiben kann, zeigt Kaisers (Anm. 9) 399 biblisch und neuzeitlich orientierte Deutung, wenn sie im Selbstmordbeschluss nur "äuβerste dramatische Ironie" sehen kann, die darin bestehe, dass Faust "noch diesen Schritt als Triumph, als Sprengung menschlicher Begrenztheit versteht." [End Page 114]

49. O. Marquard, "Das gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit," in Sloterdijk und Macho (Anm. 13) 234–41.

50. Vgl. M. Bergengruen, "Der Sündenfall im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit," in Schrader und Weder (Anm. 4) 85–112.

51. Schings (Anm. 47) 101 findet unter Rückgriff auf die Historia im "zu spät" gar das "Leitmotiv" der von ihm dann bei Goethe ins Zentrum gestellten Verzweiflung: "Um die Erkenntnis dieses 'zu spät', das Mephistopheles bei jeder Gelegenheit seinem Opfer einschärft, formiert sich die Melancholie Fausts, seine 'Trawrigkeit vnd Schwermut', die Faust immer dichter in ihren Bann ziehen." Im Anschluss an Schings spricht zuletzt M. Jaeger, Fausts Kolonie: Goethes kritische Phänomenologie der Moderne (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004) ohne Beschönigung von "Fausts verzweiflungsvolle[r] Selbstwahrnehmung der nichtigen Existenz" und sieht "Fausts nächtliche Todesphantasien in der heroischen Revolte des modernen Übermenschen" enden (456–57).

52. Zugleich betätigt sich Faust hiermit als prototypischer Gnostiker, insofern diese Geyer (Anm. 8) 48 zufolge "als erste in einer systematisch und methodisch reflektierten Weise mit der Schrift umgegangen sind, die Auslegungsprinzipien—die allegor­ische oder historische Schriftexegese—begründeten und konsequent anwandten."

53. Faust Tendenz zu esoterischer Weltflucht beantwortet später auch die mögliche Frage, warum es bei so viel Indifferenz überhaupt noch zu Pakt und Wette hatte kom­men können: "Ich aber frei, wie mir's im Geiste spricht, / Verfolge froh mein innerliches Licht, / Und wandle rasch, im eigensten Entzücken, / Das Helle vor mir, Finsternis im Rücken" (6805–6).

54. Zu diesen Deutungsfiguren siehe Kaiser (Anm. 9) 407–8, 411 sowie M. Schulz, "Prometheus, Luzifer, Faust—metaphysische Rebellen bei Goethe," Goethe-Jahrbuch 121 (2004): 23–37, 24–25, hier mit Hinweisen auf einschlägige Literatur zur literarischen Tradition dieser Figuren.

55. Entsprechend wehrt sich Faust gegen jede konfessionelle Festlegung in seiner freigeistig-hymnischen confessio. Durch diese pariert er zum einen die missliche Gretchenfrage, indem er sein pantheistisches credo als rhetorisches Verführungskunststück aufführt. Dessen philosophisch-religiöse Subtilität fungiert gegenüber der vulgär-konfessionellen Naivität Gretchens wie in der Gnosis die Esoterik der Pneumatiker gegegnüber der Exoterik der Psychiker im Volksglauben. Siehe hingegen mit religionsgeschichtlichen Bezügen auch E. M. Wilkinson, "Theologischer Stoff und dichterischer Gehalt in Fausts sogenanntem Credo," in Goethe und die Tradition, hg. v. H. Reiss (Frankfurt am Main: Athenäum 1972) 242–58. Vgl. zu dieser Textstelle die erhellende Deutung bei P. P. Riedl, "'Wer darf ihn nennen'? Betrachtungen zum Topos des Unsagbaren in Goethes Faust," in Goethe-Jahrbuch 124 (2007): 215–27.

56. Im Unterschied zur vorherrschenden Vereinseitigung auf den Strebenspositivismus fragt Schings (Anm. 47) 121 danach, ob wohl Fausts noch im Wettzusammenhang geäußerten "Negationen wiederum im Zeichen des Nihilismus stünden?" Hingegen sieht G. Böhme, "Kann man Goethes Faust in der Tradition des Lehrgedichts lesen?" Goethe-Jahrbuch 117 (2000): 67–77, Fausts "Sich-Einlassen" auf die Welt als die "Grundlehre" an, die ihn "von seiner Verzweiflung am Wissen erlöst" (76).

57. Für die historische Gnosis scheint das umgekehrte Ergänzungsverhältnis charakteristisch zu sein: "Im Versuch einer Synthese beider Elemente—der religiösen Heilssuche und des wissenschaftlichen bzw. quasi-wissenschaftlichen Erklärungs-bedürfnisses—darf man zu Recht den Ausweis des gnostischen Paradigmas vermuten," so Geyer (Anm. 8) 50. [End Page 115]

58. Vgl. etwa Clemens von Alexandrien, Stromateis VII, 16, 94.

59. Siehe etwa die differenzierte Auffassung von Repräsentativität, die auf "Besonderheit des je Indviduellen" zielt, bei K. Eibl, "Zur Bedeutung der Wette im 'Faust'," Goethe-Jahrbuch 116 (1999): 271–80. [End Page 116]

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