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  • Literarische Polenbilder in der deutschen Nachkriegsliteratur: Zur Raumperformativität zwischen dem Eigenen und dem Fremden
  • Pawel Zimniak (bio)

Es gibt vielfältige Auffassungen zum Begriff “Stereotyp.” In einer frühen Untersuchung Walter Lippmanns wird die Bildung von Stereotypen mit einer “Ökonomie des Denkens,” mit notwendigen Verallgemeinerungen und Klassifizierungen verbunden (67–68). Lippmann fasst Stereotype als “Bilder in den Köpfen,” die sich der Mensch von der Welt außerhalb seiner Reichweite macht (27). Die Funktion von Stereotypen hängt mit Identitätsfragen zusammen, nicht zuletzt durch die Notwendigkeit ihrer historischen Verortung (Hahn). Die Frage nach literarischen Aspekten der Vorstellungen über das Eigene und das Fremde (O’Sullivan) sowie dem Charakter fremder Völker (Stanzel) wird im Bereich der komparatistischen Imagologie (Fischer; Szaruga, “Von den Stereotypen bis zur Befreiung” und “Das Bild des Deutschen”) verortet und die Erforschung ethnischer Stereotypenbildung – so Hugo Dyserinck und Hans Dieter Zimmermann – mit der politischen Tragweite von Literaturwissenschaft verbunden (Stüben). Bei der Herstellung einer Verbindungslinie zwischen literarisch konstruierten Eigen- und Fremdbildern und den so genannten “Nationalcharakteren”– wenn solche überhaupt ahistorisch festgestellt werden können – sowie dem politischen Bezug, ist mit zu reflektieren, dass solche Bilder sich im Bereich der Fiktionalität bewegen und mit einem gesicherten Erfahrungswissen nicht verwechselt werden dürfen. Carsten Gansel verweist deshalb mit Nachdruck auf die Notwendigkeit der Einbeziehung narratologischer Fragen (“Abkehr vom Stereotyp?” 256). Die Bildung von gruppenbezogenen Stereotypen wird nachfolgend in Anlehnung an Ansgar Nünning als eine “(zumeist unterbewußte) kognitive Strategie der selektiven Wahrnehmung und Komplexitätsreduktion” (Metzler Lexikon 624–25) aufgefasst, die zur “Bezeichnung von stark vereinfachten, schematisierten, feststehenden und weit verbreiteten Vorstellungen einer Gruppe von einer anderen (Hetero-Stereotyp) oder von sich selbst (Auto-Stereotyp) verwendet wird” (“Das Image der [hässlichen] Deutschen”). Stereotype Vorstellungen von sich selbst und von anderen sind von daher auch wahrnehmungsprägende Schemata, sie sind schwer beeinflussbar und damit von langer Dauer. Insofern zeichnen sich Sterotype durch Universalität und Konstanz aus (vgl. Blaicher). Dies ist ein Grund, warum [End Page 238] Hubert Orłowski auch von “Stereotypen der ‘langen Dauer’” spricht.

Literarische Texte als Reflexionsinstanzen lassen eine Untersuchung von konstruierten Vorstellungen über das Eigene und das Fremde als sinnvoll erscheinen. Wenn nun die Frage nach der historischen Verortung polenbezogener Stereotype gestellt wird, dann muss hier in historischer Perspektive eine Komprimierung erfolgen. In Auseinandersetzung mit der Sekundär- und Primärliteratur lassen sich folgende Polen-Stereotype zusammenfassen:

Erstens: Die erste Stelle nimmt das Stereotyp der “polnischen Wirtschaft” ein, verstanden als Misswirtschaft. Hierbei handelt es sich im deutsch-polnischen Erfahrungsbereich wie in literarischen Texten um ein Stereotyp “der langen Dauer” (Orłowski). Dieses Stereotyp ist fast schon zu einer Kategorie bei der Wahrnehmung von Welt geworden und hat in Abhängigkeit von deutschen Interessen und Bedürfnissen eine propagandistische Funktion besessen, ist instrumentalisiert worden und diente der Konstruktion eines Feindbildes (Orłowski, “Polnische Wirtschaft”). Die semantische Sozialisation des Stereotyps ist dabei auf historische Prozesse im 18. und 19. Jahrhundert und auf folgende Faktoren zurückzuführen: (a) entstanden ist das Stereotyp mit dem Ende der politischen Biographie des polnischen Staates (der Adelsrepublik). Es ist (b) in den Prozess der Entstehung der Nationalstaaten eingebettet und hängt (c) mit der Modernität des Begriffs “Wirtschaft” zusammen (Orłowski, “Stereotype der ‘langen Dauer’” 271–72). Es zeigt sich exemplarisch in Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855; 154–56). Das Stereotyp wurde sukzessive in der sozialen Kommunikation funktional mit “Unregierbarkeit,” “Anarchie” und dem so genannten “polnischen Reichstag” in Verbindung gesetzt (Orłowski, “Stereotype der ‘langen Dauer’” 270).

Zweitens: In den vergangenen Jahrhunderten liegt auch der Ursprung für das zweite grundlegende Polen-Stereotyp – hier das “Opfer-Stereotyp” genannt. Mit anderen Worten: es geht darum, dass Polen oder die Polen als Opfer gesehen werden. Das Stereotyp ist historisch entstanden. Es entwickelt sich (a) in Konsequenz mit den drei Teilungen Polens im 18. Jahrhundert; 1795 verschwindet Polen von der politischen Landkarte, und (b) dem damit einsetzenden Kampf gegen die Fremdherrschaft, der bis 1918 andauerte. Vor allem die Lyrik des Vormärz hat im Zusammenhang mit dem Freiheitskampf der Polen eine Art Polenbegeisterung ausgedrückt und dabei die Polen gleichzeitig als Opfer gesehen. Verwiesen sei nur auf Moritz Veits “Aufruf an Polen” (1832), Friedrich Hebbels “Die...

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