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  • Stadtmitte, and: Judengasse, and: Am Kanal, and: Im Werd, and: Josephsstadt
  • Ilse Aichinger (bio)

Stadtmitte

Etwas kommt in den Sinn. Jagt nicht und biegt nicht ein wie Wagen, die von Stephansplatz in eine Nebengasse wollen, sondern biegt ein wie die Straße selbst, hat Knopfgeschäfte und Kaffeehäuser in sich, öffnet und verbirgt vieles, zeigt die Schaufenster und alles, was vorne liegt, und lässt die Magazine im Dunkel.Ich weiß von den Schokoladekuchen, von der Hochzeit des Joachim und der Anna, die sie vergessen haben, von der Judengasse, in die der Wind weht. So hilft uns der Himmel.Lasst doch die Sonne ruhig matter werden! Es gibt Wolle und Schuhe zu kaufen in den Seitengassen. Und eine Stiege, mit Gras bewachsen, führt hinunter.Die Orte, die wir sahen, sehen uns an. [End Page 30]

Judengasse

Katzenköpfe. Was unsere Straßen schmückt, sind nicht mehr die Schädel der Opfertiere. Unser Stolz ist vergangen.Hinter unseren Gängen ticken die Uhren ins graue Licht. Junge Männer fragen lächelnd nach unseren Wünschen. Da rauscht kein rotes Meer. Nur unsere Wäsche trocknet noch im Ostwind. Es ist geschehen, weil wir die Nacht nicht abgewartet haben. Als die Sonne unterging, sind wir ihr nachgezogen.Und hier ist die Stelle, an der wir müde wurden, hier bauten wir Häuser. Hier ging die Sonne unter, hier krümmten wir uns, ohne uns zu beugen.Seither wächst Gras zwischen den Steinen. [End Page 32]

Am Kanal

Der Sektierer wohnt am Ufer. Das Wasser rinnt dort eisgrau vorbei. Wer ihn besucht wird mit Lebensmitteln und wollenen Kleidern beschenkt. Der Sektierer hat Gott an einem Tag erkannt, er brauchte keinen Augenblick. Du wirst in die Arme geschlossen.Die Geflügelfarm ist auch nicht weit. Da tummeln sich die Tauben: die Tauben mit den Schöpfen, mit den weißen Sporen an den Füßen. Sie fliegen auf und fallen in den Hof und bleiben auf der Erde, bis es Abend wird. Die Helme nicken. Wo das Vordach zu Ende ist, spenden die Fasane mit den braunen Flügeln Schatten. Die fremden Hähne stehen auf einem Bein.Wer freut sich auf Schnee und Eis, wer hat drüben die Wölfe gesehen? Das waren die Kinder, die auf der Zille spielten. Sie sind nach Hause gegangen. Der Himmel wacht über allen, die zum Opfer bestimmt sind. [End Page 34]

Im Werd

Die Hochsee aus dem Ghetto, Springflut aus der Spitalstür, Wasser aus dem Stein. Hier umarmen sie einander, hier züngeln sie hoch auf, wenn alles klar ist, hier ist der Staub verschwiegen. Das Fest ist hier. Eure Enkel sind lange fort.Kommt jetzt heraus, euch baut das Mittagslicht den Pier zurecht, auf dem ihr landen könnt, grüne Fliegen begrüßen euch im Namen der Küste. Die Verladebüros sind heute geschlossen, Sonnenflecken öffnen das fremde Land. Eure Enkel kommen nicht wieder.Der Weg zur Auferstehung führt drei Gassen weiter an den Fluss hinab. Dort geht kaum einer, aber die alten Frauen haben doch Lavendel unter ihre Wäsche gelegt und violette Tücher in das Innere der Schränke. Engel halten Nachschau. [End Page 36]

Josephsstadt

Nachmittagsschule, Blindenhaus, verlorene Münze auf dem stillen Platz. Hier bin ich eingeladen: heute um vier. Käm’ ich nur wenig später, so wäre nichts mehr hier als in der Ferne die Mauern der Spitäle, Gefängnisse, Raben am grauen Himmel.Wo aber niedrigere Gitter, milderer Rauch und ich selbst, wo wär’ ich? Der die Münze aufhob, hob er auch uns auf? [End Page 38]

  • Stadtmitte (Centro de la ciudad), and: Judengasse, and: Am Kanal, and: Im Werd, and: Josephsstadt (Barrio de San José)
  • Ilse Aichinger (bio)

Stadtmitte (Centro de la ciudad)

Algo te viene a la cabeza. No corre y no gira como los coches que quieren tomar una calle lateral desde la Plaza de San Esteban, sino que dobla la esquina como la calle misma, y tiene mercerías y cafés, descubre y esconde muchas cosas, muestra los escaparates y cuanto está en primer plano, y deja los almacenes en la oscuridad.Me acuerdo de los pasteles...

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