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  • Der Alte Mann
  • Günter Kunert (bio)

bemerkt: Er hateinen Doppelgänger. Und nocheinen zweiten. Und nochandere. Lauter tristeImitationen. Als wolleein böser Geist mich narren.Wo ich auch hinkomme, immersind sie schon da, humpelndund hinkend, jammernd undächzend, verbittertund verbohrt. Kopien des originalenIchs, abgewehrt mit einem mattenGruß, hilflos gegenüberder Verschwörung deserbarmungslosen Kalendariums. [End Page 8]

ist vergeßlich geworden.Und schreibt auf einen Zettel:"Ab morgen Gedächtnistraining!"um danach den Zettelvergeblich zu suchen.

entdeckt eine Felsspalte.Alles Vaginaleist der Eingangzur Unterwelt, unerforschlichund rätselvoll. Dakamen wir her und dawollen wir wieder hinein –wenigstens kurzfristig. [End Page 10]

zweifelt an der Kugelgestaltder Erde. Was haben sieuns nicht schon alles eingeredet?Irrtümer als Wahrheitenausgegeben. Die Judensind unser Unglück. Warumbin ich ohne Judennicht glücklicher?Nikolaus Kopernikus, derpolnische Schlawiner, stahlmir die Zuversichtins göttliche Universum. Da steh'ich nun, ich armer Tor,und bin bloß ärmer als zuvor.

ist lebensmüde. AberRevolver sind zu teuer. UndGift gibt es nur in der Apothekeauf Rezept. So buchtDer alte Mann eine Busreiseüber europäische Landstraßenin den Hades. Nach der Rückkehrdie Enttäuschung. Nicht mehrzuverlässig das technikbedingteSchicksal. Bleibt bloßder gezwirbelte Hanf,klassische Qualitätswarenatürlich. [End Page 12]

blättert in seinem Telefonverzeichnis.Alles Nummern von Toten. Wieerreiche ich euch, Freunde.Die Drähte sind gekappt, dieSargdeckel versiegelt. Meine Stimmedringt nicht mehr durchin den ewigen Frieden. MitAntworten rechne ich nicht mehr.Eure Fotos schweigen herzlich.Als Schatten treffen wir unswieder einmal, ohne daß dieeinander etwas zu sagen hätten:Als daß wir unsim Hades so verlassen fühlenwie zu Lebzeiten.

betrachtet seine Zehen. Wie schnelldie Nägel wachsen. RegelrechteKrallen. Ist das krankhaft oderbiologisch bedingt? Geschähewenigstens ein Gleiches demHaupthaar, man hätteeine Mähne. Wie Beethoven.Aber dann wäre man ja taub!Ergo: lieber die Nägel. [End Page 14]

hält sich für jung.Im Ausweis das Geburtsdatumist eine Fälschung. Solchermaßenwerden wir alle betrogen,um uns frühzeitig abzuschaffendurch Verschwörermit gefärbten Haaren, geglättetenFalten. Jedoch ich werdeaus meiner Asche auferstehen,meinesgleichen zu rächen.Ihr habt meinen Namenübersehen: Ich heiße Phönix.

hält Ausschau nachweiblichen Körperlichkeitenabseits ästhetischer Eindrücke.Fleisch will ich, Mengen davon.Venus Kalypygosist mein Ideal. So antikwie sie bin ich längstschon. Aber auchihr nicht mehr gewachsenim Olivenhain an der Quellewo die Leiberin der Sonne aufblühen,um zu verwelken. [End Page 16]

ersteht eine ausgemusterteSchaufensterpuppe. Bitteplazieren Sie die Dameauf den Ecksessel. Ich werdedieselbe nicht duzen. KeineIntimitäten. Geständnissenimmt sie widerspruchslos hin.Aber was habe ichschon zu beichten, außer demallgemein Üblichen. Icherkläre ihr meine Befindlichkeit,und sie schweigt. Denndas Schweigen ist der Weisheitletzter Schluß.

raucht eine Zigarre. Der Duftglimmenden Tabaksverzaubert die Welt. Ausmeinem Munde dringen Wölkchenin den Äther. Genausoverfliege ich demnächst:als ein bißchen Rauch, zartund unwiederbringlich. DieMetamorphose des Verschwindensregelrecht klassisch. [End Page 18]

begegnet Nofreteteim Museum. Auf einem Augeist sie blind,gleich uns allen. Man siehtnur die halbe Wahrheit.Mit der ganzen wäre das Lebenunerträglich. Überschimmertvon der Schönheitder Kunst.

vermutet, die Gorgonenhatten Gatten: deren unverrückbaresGrinsen ist der Beweis. Ebensoder klagende Ton, entfährt ihnenein Wind. Ihre Rede klingt hohlwie aus einer steinernen Röhre.Auch über ihren Worten liegteine Lähmung. Manchmal am Morgennimmt der Spiegel die Erstarrung wahr.Die Rasierklinge schabtüber verkieselte Haut."Ja, meine Liebe, ich kommesogleich!" lautet das Echoauf den Rufaus der Küchenferne. [End Page 20]

träumt, er sei ein junger Mann,der träumt, niemals zu altern.Denn im Spiegelbild des Traumesbleibt die Zeit stehenwie in allen Bildern. Der Momentverweilt...

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