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Reviewed by:
  • Gelesene Wirklichkeit: Fakten und Fiktionen in der Literatur
  • Jürgen Heizmann
Ruth Klüger. Gelesene Wirklichkeit: Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen: Wallstein, 2006. 222 S. € 22. ISBN 978-3-8353-0026-2.

Es ist immer ein Vergnügen, ein Buch von Ruth Klüger zu lesen. Denn bei aller Gelehr-samkeit der Autorin muss sich der Leser bei ihr nie mit der Machete einen Weg durch theoretisches Unkraut bahnen, sondern er wird freundlich an der Hand genommen von einer angenehm klaren und anschaulichen Sprache, hinter der immer auch der Mensch Ruth Klüger spürbar wird. Die sieben Aufsätze in diesem Buch, von denen fünf bereits an anderer Stelle erschienen, kreisen alle um das Verhältnis von Literatur und Geschichte, von fiktionalem und faktualem Erzählen. Die in den USA lehrende österreichisch-jüdische Literaturwissenschaftlerin, die mit ihren Memoiren weiter leben ein außerordentliches historisches wie auch literarisches Werk über ihre Deportation nach Theresienstadt und Auschwitz vorlegte, geht hier in mehreren Betrachtungen auf die Grenzverläufe zwischen Fiktion und Historiographie ein in ihrem Fall weit mehr als eine literaturtheoretische Übung: ihre eigene Erfahrung mit der Wirklichkeit hat sie, die ihren “Lebensunterhalt mit der Vermittlung von Fiktionen, von Literatur, verdient,” immer wieder der Frage nach-spüren lassen, “was unsere Wirklichkeiten denn mit unseren Fiktionen zu tun haben” (217).

Im Mittelpunkt der hier versammelten Vorträ;ge und Essays stehen Reflexionen zum Umgang der Literatur mit historischen Fakten, vor allem in dem viele Jahre als Paradegattung der deutschen Literatur geltenden historischen Drama und im historischen Roman. Dabei wird sehr schnell deutlich, dass Klüger die Literatur zwar auf Wirklichkeit verpflichten möchte und in ihr mehr sieht als reine Textwelten, jeder avantgardistischen oder postmodernen Vermischung der Diskurse jedoch abgeneigt ist, ja darin eine regelrechte Gefahr sieht. Mehrere Male beschreibt sie das Verhältnis von Historiographie und Literatur mit einem Bild: dem von Grenzdörfern, zu denen man zwar zu Fuß hinüber-wandern könne, die aber eindeutig verschiedenen Ländern angehörten. So ordnet Klüger die Autobiographie eindeutig der Geschichte zu und duldet hier keine Erfindungen, den autobiographischen Roman hingegen zählt sie zur Literatur (86). Diesen kategorialen Unterschied scheint sie zum einen in den Werken selbst festzumachen bzw. im Ethos des Autors, zum anderen auf der Rezeptionsseite, indem sie vom Gewand des Buches spricht, mit dem es an die Öffentlichkeit tritt und sich den Lesern präsentiert (87). Mir scheinen diese eindeutig gezogenen Grenzlinien eher dem Wunschdenken der Autorin zu entsprechen als die aktuelle literarische Situation widerzuspiegeln. Die sprach-, literatur-, diskurs- und erkenntnistheoretischen Ansätze jüngeren Datums werden bei ihr, abgesehen von einer polemischen Bemerkung gegen “hochkarätige moderne Theorien” (218) schlechterdings ignoriert. Keineswegs werfe ich Klüger vor, dass sie den Spielereien eines Paul de Man oder anderer Dekonstruktionisten nicht folgen will, aber trotz ihres Hinweises, dass für Historiker nicht anders als für Literaten, die Fakten, das Geschehen [End Page 87] nur “Rohmaterial” sind, “dem sie eine Interpretation, eine Form, angedeihen lassen” (84), blendet sie die literarischen und historiographischen Entwicklungen der letzten vierzig Jahre und die handwerklichen Fragen des Schreibens im Grenzgebiet von Fakt und Fiktion mit einer Grandezza aus, wie sie sich wohl nur eine grand old lady der Germanistik leisten kann. Klügers Kronzeugen sind Schiller, Kleist und Hölderlin. Das ehrt sie. Aber das wirkt, horribile dictu, in einer heutigen Untersuchung zum Verhältnis von Fakten und Fiktionen auch ein wenig verstaubt. Wenn Klüger im letzten Aufsatz, “Geschichten aus Geschichte machen,” also auf der vorletzten Seite des Sammelbandes, einräumt: “Bei geschichtlichen Fiktionen verschwimmen jedoch die scharfen Grenzen” (218) so kommt dieser Hinweis reichlich spät und wirkt nur wie ein nachgeschobenes Zugeständnis an neuere literarische Tendenzen. Der Befund wird denn auch an keinem einzigen Beispiel erläutert.

Trotz dieses Mankos wird man Klügers Buch mit einigem Gewinn lesen. Ein guter Einstieg ist der fast vierzig Seiten umfassende Essay “Von hoher und niedriger Literatur,” denn darin wird das Literatur- und Kulturverständnis der Autorin deutlich. Ihre Ausgangsfrage ist dabei, ob angesichts der heutigen Massenkultur eine solche Unterscheidung überhaupt noch getroffen werden kann. Sie verwirft das wie auch immer zu definierende Triviale nicht...

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