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  • Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften
  • Gabrijela Mecky Zaragoza
Franka Marquardt . Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. Peter J. Brenner. Münster: LIT, 2003. 400 S. € 29,90. ISBN 3-8258-6805-2.

"Was aber hätte die Literaturwissenschaft zur Antisemitismusforschung noch beizutragen? Ist nicht alles bereits gesammelt, gesagt, erkannt und geordnet? Weiß man nicht [...] längst genug über das Bild des Juden in der Literatur? [...] Über das Bild des Juden – vielleicht ..." (4) – nicht aber über Erzählte Juden, wie der Titel dieser Dissertation lautet. Franka Marquardt setzt es sich zum Ziel, neue Wege in der literarischen Antisemitismusforschung zu gehen. Die tiefgreifenden Verstrickungen zwischen Literatur und Antisemitismus, die [End Page 390] von mittelalterlichen Spielen über die Pferdefüße der Moderne bis hin zum imaginierten Tod eines jüdischen Literaturkritikers reichen, können nach Marquardt nur unzureichend durch stoff- und motivgeschichtliche Auslegungsmethoden aufgedeckt werden, da diese sich meist ausschließlich auf die Bildebene konzentrieren. In Abgrenzung an die rund hundertjährige Geschichte literaturwissenschaftlicher Studien zu jüdischen Figuren, die, wie sie nachweist, häufig dazu geführt hat, stereotype Judenbilder festzuschreiben oder gar, wie im Fall der Motivforscherin Elisabeth Frenzel, antisemitisches Gedankengut zu transportieren, möchte sie die Frage nach dem Bild des Juden durch einige spezifische poetologische Dimensionen erweitern, um auch andere narratologische Vehikel bei der Tradierung und Perpetuierung judenfeindlichen Erzählens aufzuzeigen. Im Mittelpunkt stehen die Romane zweier Großschriftsteller des 20. Jahrhunderts: Thomas Manns 2000 seitige Joseph und seine Brüder-Tetralogie, deren erster Band in dem Jahr erscheint, in dem Hitler Reichskanzler wird, und Robert Musils Riesenfragment Der Mann ohne Eigenschaften, das wahrscheinlich auch dann Fragment geblieben wäre, wenn der Verfasser nicht 1942 verstorben wäre. Die Textauswahl überrascht zunächst. Während Manns Joseph-Roman auf der Genesis basiert, einer Urgeschichte der bene Israel, d.h. auf einer Geschichte, die von Juden über Juden für Juden geschrieben wurde, erzählt Robert Musils Roman von der Reichshauptstadt Wien um 1913, d.h. es geht nur am Rande um Erzählte Juden. Dies sagt aber noch nichts darüber aus, wie von Juden und Jüdischem erzählt wird. Marquardts Dissertation fördert Erstaunliches zutage: Im Gegensatz zu Manns vermeintlich biblischem Roman, der antijüdische und antisemitische Denk- und Darstellungsmuster aufweist und schon aus diesem Grund eher das Gegenteil eines biblischen Romans ist, bricht Musils nicht-biblischer Roman die Tradition judenfeindlichen Erzählens und rückt durch seine multiperspektivischen Auffächerungen in die Nähe biblisch-rabbinischer Erzähltraditionen.

Marquardts Dissertation leistet in mehrfacher Hinsicht einen wichtigen Forschungsbeitrag. Die Forschungsliteratur sowohl zur Bibelforschung und literarischen Antisemitismusforschung im Allgemeinen als auch zur Mann- und Musil-Forschung im Besonderen wird sorgfältig erfasst und kritisch aufgearbeitet. Die methodischbegrifflichen Grundlagen der Arbeit werden sowohl in der Einleitung als auch im zweiten und theoretischen Kapitel gelegt. Begrifflich unterscheidet Marquardt in ihrer Einleitung zu Recht zwischen Antijudaismus, einem theologischen Konzept, das von der spirituellen und einer daraus gefolgerten rechtlich-sozialen Inferiorität der Juden ausgeht, und Antisemitismus, einem Denksystem mit bestimmten inhaltlichen und strukturellen Charakteristika, z.B. Rassedenken und Vernichtungsphantasien. Gleichzeitig zeigt sich in den Textlektüren aber, wie eng Antijudaismus und Antisemitismus miteinander verwoben sind und wie schwierig es folglich ist, diese begriffliche Trennlinie aufrechtzuerhalten, ja mehr noch, sie für eine Kategorisierung verschiedener Formen von Judenfeindlichkeit einzusetzen. Das Grundgerüst für eine Narratologie des Antisemitismus wird in dieser Arbeit im Hinblick auf die beiden Romane anhand von vier Erzählingredienzen entwickelt: dem Erzählstoff, der Erzählsituation, dem Aufbau der Erzähltexte und dem Erzählen von Juden und Jüdischem. Dadurch entsteht eine klar aufgebaute Analysestruktur, die bei den anschließenden Textlektüren konsequent durchgehalten wird. Den Hauptteil der Arbeit in den Kapiteln drei und vier bilden die gattungsgeschichtlich-erzähltechnischen Analysen der zwei Romane, die nach ihrer medialen Einbettung in den Kontext abendländischer Judenangst eingefügt werden. Aber noch etwas sollte erwähnt werden: das hohe stilistische Niveau der Arbeit, das die Lektüre zum Vergnügen macht. [End Page 391]

In ihrem Joseph-Kapitel geht Marquardt in...

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