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  • Käferplagen und Kirchenburgen: Defensivhaltungen des Ichs in Wenderomanen Christoph Heins
  • Friedemann Weidauer

Wie schon die Wende 1945 zwang auch die Wende 1989 die Deutschen dazu “ein neues Außen und Innen” (Krauss 29) zu konstruieren. Diesen Prozess versucht Christoph Hein in seinen Romanen Willenbrock (2000) und Landnahme (2004) darzustellen und zu analysieren und deckt dabei auffällige Parallelen zwischen den beiden Zeiträumen auf. Seine Romane setzen jeweils ein paar Jahre nach dem entscheidenden Wendejahr ein und beschreiben einen Zustand, in dem sich die dargestellten Charaktere bereits eine zumindest vorläufige Nach-Wende-Identität zurecht gezimmert haben. Dies ist insofern von Bedeutung, da sich die Charaktere somit schon eine vermeintliche Sicherheit aufgebaut haben, die sie mit Händen und Füßen gegen neue Verunsicherungen verteidigen. Davor hatte man sozusagen noch gar nichts zu verlieren, ein paar Jahre nach dem jeweiligen Wendepunkt steht aber das neu Erreichte bereits auf dem Spiel. Die Charaktere befinden sich in einem Zwischenzustand zwischen “nicht mehr” (Nazi-“Volksgemeinschaft” bzw. Bürger der DDR) und “noch nicht” (Bürger der DDR bzw. einer erfolgreich vollzogenen Wiedervereinigung). Dabei nährt sich die Verunsicherung angesichts neuer Bedrohungen aus drei Quellen: Die neue Identität ist eben noch sehr brüchig und straft die Selbsteinschätzung, in einer neuen Normalität angekommen zu sein, Lügen. Genau deshalb werden dann als solche empfundene Eindringlinge als besonders bedrohlich gesehen. Drittens macht dem Einzelnen die Verteidigung der neu erlangten Identität bewusst, wie sehr er sich bereits auf die faulen Kompromisse des jeweiligen neuen Zustands eingelassen hat.

Es geht dementsprechend in beiden Romanen in erster Linie um das uneingestandene Komplizentum derer, die sich in diesen beiden Wendezeiten zwar so weit es geht aus den zeitgenössischen Konflikten heraushalten wollen, aber gerade durch ihr konformes Verhalten zu Komplizen der Doppelmoral des jeweiligen Systems werden. Damit einher geht die Verteufelung des Anderen, weil es das Andere ist, was die inneren Widersprüche des jeweiligen Systems zu Tage treten lässt. Auch wenn die einheimischen Guldenberger in Landnahme selbst dabei sind, sich innerhalb des neuen Systems eine gesicherte Stellung auszubauen, wird der Neuankömmling Haber als der eigentliche Feind gesehen, obwohl er nichts anderes als sie selbst im Sinn hat. Genauso werden die Kriminellen aus dem Osten in Willenbrock als die eigentliche Bedrohung gesehen, während es [End Page 252] wiederum die Einheimischen wie Willenbrock selbst mit ihren grenzübergreifenden Geschäftstransaktionen sind, die vom Territorium des Anderen Besitz ergreifen. In beiden Situationen werden die Ansprüche der Einheimischen auf ein gesichertes Leben durch ihre Zugehörigkeit zum jeweiligen Ort legitimiert, während die ähnlich gelagerten Ansprüche der “Anderen” aufgrund ihrer Unzugehörigkeit von vorne herein suspekt sind.

Das uneingestandene Komplizentum bei der Abwehr des Eigenen gegen das Andere macht den Beteiligten bewusst, dass sie gewiss nicht mit weißer Weste in den Kampf gegen das vermeintlich böse Andere ziehen und trotz anderslautender Beteuerungen bis zum Hals in die jeweils neuen gesellschaftlichen Zustände verstrickt sind. Denn das haben viele von Heins Protagonisten wie z.B. Der fremde Freund (1982) oder Der Tangospieler (1989) gemeinsam: Trotz aller Versuche dieser Romanfiguren darauf zu bestehen, mit den jeweiligen gesellschaftlichen Zuständen nichts zu tun zu haben, müssen sie zugeben, dass das jeweilige System ihr bisheriges Leben weitgehend determiniert hat, eben gerade weil sie so sehr versucht haben, sich das jeweilige System vom Hals zu halten. Die Reaktionen der Charaktere auf diese ernüchternde Einsicht reichen vom inszenierten Tod (Der fremde Freund) zu resignativer, noch stärkerer Einigelung in Willenbrock.

Der äußere Panzer wird deshalb zur zentralen Metapher des Zustands dieser Romanfiguren, sei es das Bad im Drachenblut (Der fremde Freund), der Alkoholismus (Tangospieler) oder die Burg, die sich Willenbrock mit immer ausgefeilteren Alarmsystemen an der Grenze zu Polen als Wochenendomizil zusammenbastelt. Es mag Zufall sein, aber Willenbrocks Gehöft am Stettiner Haff ähnelt im Roman zunehmend der namensgleichen Kirchenburg Weidenbach (Willenbrock/willow brook/Weidenbach) der Volksdeutschen in Siebenbürgen, die damals “Türken und Tartaren trotzte” (Bild 1; http://www.siebenbuerger.de/ortschaften/weidenbach/index.html ):


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Bild 1.

http://www.siebenburger.de/ortschaften/weidenbach/index/html

Der Name mag zwar zufällig gewählt...

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