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Reviewed by:
  • Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie
  • Prof. Dr. Ulrike Landfester (bio)
BrüggemannHeinz , Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007. Pp. 357.

Heinz Brüggemanns Monographie hat sich ein ganz besonderes Ziel gesetzt—nichts weniger nämlich als die Rekonstruktion eines Werkes von Walter Benjamin, das unausgeführt blieb und dessen (Wieder-)Belebung durch Brüggemann deshalb eher den Namen einer Konstruktion verdient. Es handelt sich um ein Werkprojekt, das Benjamin im Januar 1927 in seinem Moskauer Tagebuch als „das Dokumentarwerk ‚Die Phantasie‘ „ (zit. 13) aufführte. Das zu diesem Projekt ins Benjamins Nachlass überlieferte Manuskriptmaterial umfasst genau drei doppelseitig beschriebene Blätter mit Listen für die Bücher, die Benjamin offenbar für das Projekt auszuwerten plante. Diese drei Blätter werden hier zur Keimzelle eines opus magnum, dessen Verfasser in einem Akt ungeheuer produktiver Archäo-Empathie auf etwa 350 Seiten die Spuren nachverfolgt, die sich von gedachten drei Blättern aus ausmachen lassen.

Das Ergebnis mag auf den ersten Blick ein wenig hypertroph erscheinen angesichts der wahrhaftig eher dünnen Quellenlage; tatsächlich aber hat der Verfasser vollkommen recht, wenn er, Kritik an solche Hypertrophie antizipierend, gleich zu Anfang darauf hinweist, dass „die Entzifferungsarbeit an solchem Material […] Namen, Verbindungen, Korrespondenzen und Kommunikationen sichtbar werden [lässt], die den Autor in seinen kulturellen Kontexten, Herkünften und Erwartungshorizonten zeigen“ (15)—die Autornamen und Buchtitel, die auf diesen wenigen handschriftlichen Listen von Benjamin zusammengestellt finden, erlauben einen panoramischen Rundblick über die phänomenale Dichte und Differenziertheit nicht nur von Benjamins eigenen Überlegungen zu der Frage, wie sich das Paradigma ‚Phantasie’ im semantisch vielfältigen Zusammenspiel von Sprache und Bild, Schrift und Illustration gleichsam dingfest machen lassen könnte, sondern auch der Verwurzelung dieser Überlegungen in der Kunst- und Literaturszene der klassischen Moderne.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die das zentrale Thema von Benjamins Werkprojekt, die Phantasie, jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Der erste Teil Kindliches Spiel und Phantasie, denkt einzelne Texte aus Benjamins Berliner Kindheit zusammen mit dem Genre der illustrierten Spielbücher, auf die Benjamin sich darin explizit oder implizit immer wieder bezieht. Hier überlagern sich die Phantasie des Kindes Walter Benjamin, die Topik der Kindes-Figur in der europäischen Romantik und das Metaphorizitätsprogramm des Surrealismus zu einer Studie über die ästhetische Moderne, die ihren Fokus im Konzept moderner Humanität aufsucht. Das Kind wird hier, als Medium wie als Gegenstand von Kunst, zum Sachwalter einer solchen Humanität, die sich gerade in ihren Grenzbereichen als künstlerisch produktive erfährt. Der zweite Teil, Phantasie und Farbe, knüpft hier an, um Benjamin von dieser Figur des Kindes aus nunmehr gezielt im bildkünstlerischen Kontext der Moderne zu platzieren; dabei geht es durchweg immer auch um die Reflexion auf das Sehen, auf die Bedingungen und [End Page 679] Möglichkeiten der visuellen Perzeption und ihrer Geschichte seit Beginn der langen Moderne im 18. Jahrhundert. Die Wahrnehmung von Farbe und das poetologische Spiel mit dieser Wahrnehmung auch und gerade in der bildenden Kunst zeigen sich hier als Quellgrund und Echoraum von Benjamins Texten über Farbe und Phantasie im Gesamtzusammenhang seines Werks. Der dritte Teil schliesslich, Entstaltende Phantasie, wird von den bereits im vorigen Teil eingeführten, für die Argumentation des Verfassers zentralen Begriff der ‚Entstaltung‘ organisiert. In einem neuerlich sehr breiten, diesmal diachron vom frühen Mittelalter bis in den Expressionismus reichenden Spektrum kunstgeschichtlicher Bezüge wird hier gezeigt, wie Entstaltung als ein zwischen Bild und Sprache Durchlässigkeiten schaffendes Verfahren wirksam wird. Phantasie, so wie Benjamin sie gedacht hat oder gedacht haben könnte, erscheint in diesen drei Schwerpunktbildungen als eine Art Prisma, indem die Farben-, Bild- und Schriftkultur der Moderne immer wieder neu gebündelt und eben buchstäblich reflektiert werden kann.

Heinz Brüggemanns Buch zu lesen, erfordert einiges mentales Stehvermögen. Pointierte Thesen sind des Verfassers Sache nicht und sind auch im Darstellungsmodus überhaupt nicht angelegt; stattdessen sieht sich der Leser mit einer schier unendlich anmutenden Fülle von sorgfältig recherchierten, liebevoll ineinander verflochtenen Informationen, Textbefunden, Bildbetrachtungen und poetologischen Erkenntnissen im besten Sinne des Wortes regaliert. Es ist nicht einfach, sich in dieser Fülle zurechtzufinden, zumal der Verfasser...

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