In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

  • Die Ungestalt des Feindes: Nomaden, Schwärme
  • Eva Horn (bio)

„Die ganze Brut, die in den Leib Germaniens / Sich eingefilzt, wie ein Insektenschwarm, / Muß durch das Schwert der Rache jetzo sterben.“1 Kleists Hermannsschlacht (1808), in der Hermann den Römern diesen Racheschwur nachschleudert, entwirft ein einigermaßen ungewöhnliches Bild des Feindes: ein „Insektenschwarm“, der sich im Leib der Heimat „eingefilzt“ habe und nun zu vertreiben und auszumerzen sei. Die Metapher eines invasiven, zerstreuten und doch allgegenwärtigen Feindes—irgendwo zwischen Wespen-schwarm und Läusebefall—ist um so bemerkenswerter, als der für das politische Denken einschlägigste schwärmende Insektentyp, die Biene, stets als ein Modell der Vergesellschaftung, nicht aber der Verfeindung zitiert wird.2 Seit der Antike spiegelt der Diskurs über Bienenschwärme punktgenau die jeweiligen politischen Herrschaftsformen und Steuerungspraktiken: vom absolutistischen Modell des „Bienenkönigs“ über die Notwendigkeit der Ausmerzung einer „Klasse“ nutzloser Bienen (Drohnen) bis hin zu ihrer Adelung als schlechthin kybernetisches Tier mit der Entdeckung des Bienentanzes.3 In Hermanns Bild aber treten die Insekten als Feind auf, oder [End Page 656] besser: der Feind als ein Schwarm von Insekten. Das macht nur Sinn im Hinblick auf ein anderes Insekt, dessen lange Diskurstradition als Modell einer straff und arbeitsteilig organisierten Gemeinschaft es stets als wandelnde Armee entworfen hat: die Ameise. Sind Bienen Bürger, so sind Ameisen Krieger. Aber nicht nur das: Während die Biene im 18. Jahrhundert noch als Untertan gedacht wird, erscheint die Ameise schon bei Lessing als unwahrscheinlicher, aber doch faszinierender Inbegriff reiner Selbstregierung: Die Ameisen, so argumentiert Ernst in Lessings Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer, leben „in einer noch wunderbareren Gesellschaft als die c Bienen. Denn sie haben niemand unter sich, der sie zusammenhält und regieret.“ Falk schlussfolgert: „Ordnung muß also doch auch ohne Regierung bestehen können.“4 Auch wenn diese Form von Selbstorganisation noch gedacht ist als individuelle Selbstregierung jedes einzelnen Individuums („Wenn jedes einzelne sich selbst zu regieren weiß … “5), so tritt in diesem Modell doch im Ansatz eine Vorstellung von herrschaftsloser Selbstorganisation hervor, die für die politischen Steuerungsmodelle der Moderne prägend sein wird. Aber warum wird Selbstorganisation, wie sie das Insekten-Modell der Ameise vorführt, ausgerechnet dem Feind zugeschrieben?

Den Feind als Schwarm, als ein Kollektiv ohne Zentrum und ohne klar umrissene Form, mithin als Ungestalt, zu modellieren, ist eine Wendung der Moderne, in der sich nicht nur eine projektive Formatierung der Feindschaft, sondern auch ein Denken über Vergesell-schaftung und deren Steuerung niederschlägt. Wenn der Feind mit einer Formulierung, die Carl Schmitt, Theodor Däubler zitierend, in Umlauf gebracht hat, „unsere eigene Frage als Gestalt“ ist, dann fragt sich, welches Problem der eigenen Gesellschaft in der Gestalt—oder eben Ungestalt—des Feindes eigentlich bearbeitet wird.6 Der Feind, so Friedrich Balke, „ist die Antwort auf den Versuch, eine ‚Eigenheitssphäre’, deren Name seit 1800 Kultur ist, rein von aller Bezugnahme auf anderes oder gar auf den Anderen zu konstituieren.“7 Der Feind [End Page 657] ist damit die Figur einer Grenze des Eigenen, einer Grenze dessen, was als eigene Kultur, eigene Gesellschaft, eigene Organisationsform gefasst und gedacht werden kann. Meine These wäre: Die Ungestalten des Feindes, die in Figuren wie Nomaden, Netzen, Schwärmen, Rudeln, Infektionen etc. zu einer zweifelhaften und instabilen Darstellung gelangen, sind nicht ausschließlich als exaltierte ideologische Projektionen zu lesen.8 Sie sind vielmehr Bearbeitungen einer Steuerungsproblematik jenseits von Souveränität, deren Lösungsfiguren um 1800 in der romantischen Naturphilosophie und Ökonomie als Regelkreis und Selbstreferentialität von Systemen entworfen werden.9 Aber diese Lösungsfiguren von sich selbst stabilisierenden, also homöostatischen Systemen, die die Romantik träumt, verstellen die Schwierigkeiten und Risiken, die selbstorganisierende Prozesse aufwerfen. Novalis deutet dieses Risiko einer „totalen Zerfiießung“ in einem Fragment aus Glauben und Liebe an:

So nöthig es vielleicht ist, daß in gewissen Perioden alles in Fluß gebracht wird, um neue, nothwendige Mischungen hervorzubringen, und eine neue, reinere Krystallisation zu veranlassen, so unentbehrlich ist es jedoch ebenfalls diese Krisis zu mildern und die totale Zerfiießung zu behindern, damit ein Stock übrig bleibe, ein Kern, an den die neue Masse anschließe, und in neuen schönen Formen...

pdf

Share