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  • Die offene Maschine. Heidegger, Günther und Simondon über die technologische Bedingung1
  • Erich Hörl (bio)

„La machine reste une des zones obscures de notre civilisation.“

(Gilbert Simondon)

Seit der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und insbesondere seit der allgemeinen Kybernetisierung, die die Struktur der Wissenschaften, des Politischen, des Ökonomischen und des Sozialen nach 1950 erfaßte, läßt sich eine Konfrontation der Codes und Schematismen einer prätechnologischen Ordnung mit der technologischen Realität einer zunehmend komplexen Regelungskultur wahrnehmen. Zu ihren Signaturen gehört auch die extreme Fragwürdigkeit, wenn nicht das Zerbersten überlieferter philosophischer Unterscheidungen und Kategorien, allen voran der basalen Differenzen von téchnê und épistêmê, téchnê und physis sowie téchnê und lógos, die ursprünglich zentral für die Instituierung der Philosophie selbst waren. Das Aufeinanderprallen von vortechnologischen Bedeutungs- und Idealisierungsregimen mit den technologischen Tatsachen, in dem sich die Frage nach der Technizität einklagt und das Problem des ontologischen Status von Maschinen neu aufgeworfen zu werden verlangt, hat sowohl technophobe wie technophile Diskurse, antitechnisches Ressentiment wie Technofetischismus hervorgebracht, die die Maschine entweder als großen Gegenspieler des Menschen, der Kultur, der Lebenswelt [End Page 632] sowie von Humanität schlechthin ansetzen oder umgekehrt das neue Mythologem der denkenden, wollenden, lebendigen Maschine und den Roboter als Hauptdarsteller und Emblem eines technoiden Illusionstheaters inaugurieren. Beide Positionen aber sind letztlich nur Ausdruck eines Unvermögens, die technologische Bedingung zu denken und sich dem auszusetzen, was Technizität, was Sein und was Denken im Zeitalter von Steuerung und Information heißen könnte. Dies zu unternehmen, das ist die zeitgenössische Aufgabe der Philosophie.

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Max Bense fand früh, schon 1951 und das heißt im Beginn der kybernetischen Umstellung, eine weitsichtige Formel für diese große Transformation von der Technik zur Technologie, deren philosophischer Einsatz, in Übereinstimmung mit der konstitutiven Technikvergessenheit der Philosophie, bis heute nur erahnt ist. Er attestierte das Ende der Technik als Oberflächenphänomen und sprach vom Anbruch der „Tiefentechnik“, d.h. von deren „Eindringen in die Feinstrukturen der Welt“. Die Kybernetik, die für ihn den Hauptprotagonisten dieser Entwicklung darstellte, charakterisierte er als „Erweiterung“ der neuzeitlichen Technik „unter die Haut der Welt“.2 In seinem Vorwort zur deutschen Übersetzung von Louis Couffignals Les Machines à Penser vermutete Bense den Anbruch einer „neuen Stufe der Technischen Welt oder der Technischen Zivilisation“, der mit der Rechenmaschine stattfindet. Eine „neue Seinsart der Technik“ schien sich abzuzeichnen, sie gewann „einen neuen Sinn.“3 Die Deutungshoheit darüber sollte von der Metaphysik auf die neu zu konzipierende „Metatechnik“ übergehen, und deren Hauptaufgabe sollte darin bestehen, die Seinsverhältnisse der technischen Welt und insbesondere das Verhältnis von Mensch und Maschine jenseits des anthropologischen Vorurteils und seiner Maßverhältnisse zu rekonfigurieren und den Menschen selbst als „technische Existenz“4 zu verstehen.

Bense stand nicht allein mit der Wahrnehmung der technologischen Zäsur und der Herausforderung, die das Sein in künstlicher Welt insbesondere für die Philosophie, ihre kategoriale Ordnung und das [End Page 633] Bild des Denkens darstellte, das sie münzt. Der deutschamerikanische Philosoph Gotthard Günther—ehemaliger Assistent des Technikanthropologen Arnold Gehlen, Kalkültechniker und zwischen 1961 und 1972 Forschungsprofessor an Heinz von Foersters Biological Computer Lab an der University of Illinois, einer der Geburtsstätten der Kybernetik zweiter Ordnung5—reflektierte den Eintritt in die Zeit der technologischen Bedingung als ebenso psychohistorische wie ontologische Konversion der Welt der „ersten“ in die Welt der „zweiten Maschine“ und der klassischen in die transklassische Rationalität.

Die Welt der ersten Maschine galt Günther als diejenige des mechanischen Maschinentyps. Sie reichte vom Werkzeug und von elementaren Mechanismen über die halbautomatische bis zur vollautomatischen Maschine. Der menschliche Körper „mit seinen beweglichen Gliedmaßen“ markierte ihren Prototyp, allen voran die in die Welt eingreifende und arbeitende Hand. Nach diesem organischen Modell war die erste Maschine entsprechend durch ihre mechanisch beweglichen Teile charakterisiert. Die lange Dauer der Maschinenevolution, die am Ende zur Autonomisierung der Maschine als dritte Entität neben Natur und Geist führen sollte, vollzog sich nach Günther in den Grenzen einer bestimmten metaphysischen Grundstellung, nämlich eines zweiwertigen Weltverhältnisses, in der ursprünglich ein Ich der Natur...

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