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  • Selbstregulierung und Geistesgeschichte: Max Benses Strategie
  • Eva Geulen (bio)

Von der sich selbst organisierenden Materie bis zum sozialen System, vom Markt bis zum Biotop, vom Management bis zur Ausbildung, vom Internet bis zu neuronalen Netzwerken erstreckt sich das stetig wachsende Reich dessen, was offenbar am besten funktioniert und sich in wundersamer Autonomie auch zu verändern und neue Strukturen auszubilden vermag, wenn man auf den planenden Eingriff und die äußere Kontrolle verzichtet. Daß immer mehr Bereiche auf Selbstregulierung umstellen bzw. umgestellt werden, deutet an, daß es sich hier nicht nur um ein neues Paradigma, sondern vielleicht um eine Universalie handelt, die das alte Begehren nach einer integralen Lehre auf besondere Weise befriedigt. Denn der von Haus aus mannigfaltige Universalismus der Selbstorganisation scheint irgendwelcher Substrate wie Gott oder Natur, Mensch oder Maschine, nicht länger zu bedürfen. Konzepte wie Kommunikation oder Information sind ganz anders ‚operationalisierbar’ als ein launischer Schöpfergott oder sein menschliches bzw. maschinelles Ebenbild.

Damit erübrigt sich aber auch die seit der Verzeitlichung des Wissens im 18. Jahrhundert immer wieder bemühte Ersatzuniversalie des Kollektivsingulars ‚Geschichte’. Für die Zwecke dialektischer Selbstschließung mußte Hegel noch eine ganze Weltgeschichte aufbieten, aber obwohl Selbststeuerung und systemtheoretische Autopoiesis als zeitliche Verläufe in Begriffen der Emergenz oder Evolution beschrieben werden, widersetzen sie sich ihrer Historisierung. Daran läßt die [End Page 591] Radikalisierung der Evolutionstheorien durch Luhmanns Systemtheorie keinen Zweifel:

Ohnehin ist ja die Zeitdimension kein System/Umwelt-Schema in dem Sinne, daß System(e) in der Zeit existieren und Vergangenheit bzw. Zukunft ihre Umwelt bildeten. Die System/Umwelt-Differenz kann ausschließlich in der Sachdimension beobachtet werden. Der Beobachter kann sie dann zwar als Differenz in die Vergangenheit oder Zukunft verlängert denken, aber auch dies nur als gegenwärtige, mit der jeweiligen Umwelt gleichzeitige Operation.1

Sieht man von der Systemtheorie jedoch ab, muß die Behauptung, daß sich Selbstorganisation gegen ihre Historisierung sperre, widersinnig erscheinen, denn die wissenschaftshistorisch und technikgeschichtlich angereicherten Kultur- und Medienwissenschaften der letzten Jahrzehnte haben das Feld historischer Forschung gerade in diesen Bereichen massiv erweitert.2 Aber der explodierenden Vielfalt der Phänomene und ihren jeweiligen (Kultur)geschichten korrespondiert häufig eine Verarmung der historischen Phantasie. Symptomatisch äußert sich dieses Mißverhältnis abermals in der Systemtheorie, die dem fraglichen Paradigma die kongeniale Beschreibungssprache zur Verfügung gestellt hat. Luhmann ist mit seinen vielen Büchern nicht weniger gründlich zu Werke gegangen als Hegel. Doch anders als dieser kennt Luhmanns Systemgeschichte der Systeme eigentlich nur zwei Zäsuren, die Kosellecksche Sattelzeit am Ende des 18. Jahrhunderts und die folgenreiche Umstellung von dem Problem Teil und Ganzes auf das Problem der Beziehungen zwischen System und Umwelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts.3 Seit Kittlers „Aufschreibesystemen“ hat sich dafür die Signatur 1800/1900 eingebürgert.4

‚Um 1900’ aber findet nicht nur die mit den neuen Wissensformen der Ethnologie, der Psychoanalyse und der Systemlinguistik verbundene „Austreibung des Geistes“ aus der Geistesgeschichte statt5, sondern der Geist probt auch seinen eigenen Aufstand. Wie die [End Page 592] Lebensphilosophie nach vorherrschender Meinung auf die Erfahrung der beschleunigten Modernisierung mit einem Homogenisierungsversuch reagiere, dominiert auch hinsichtlich der mit ihr verknüpften Geistesgeschichte im Gefolge Diltheys eine Interpretation, die sie als Fluchtversuch vor den Fliehkräften der Moderne in eine überwiegend nationalistisch geprägte Kontinuität begreift. Mit dem das klassischromantische Organismus-Modell aktualisierenden Begriff des Lebens einerseits und dem des Geistes andererseits werden in dieser Perspektive noch einmal Ersatz-Substrate bereitgestellt, die aber letztendlich kapitulieren müssen bzw. ihr böses Ende im Faschismus finden.6 Einen problematischen Verdichtungsgrad erreichen die seit dem späten 19. Jahrhundert üppig wuchernden Diskurse über Geist und Leben in Ludwig Klages’ populärem Buch „Der Geist als Widersacher der Seele“ (1929–1932). Es bringt den auf Mechanisierung und Mathematisierung festgelegten Geist endgültig in Stellung gegen das als Beseelung verstandene Leben und treibt damit die in der Geistesgeschichte und im Selbstverständnis der Geisteswissenschaften seit Dilthey virulente Spannung von Geist und Leben auf eine kaum zu überbietende Spitze.

Max Benses frühe Schriften gehören in diesen geistesgeschichtlichen und lebensphilosophischen Kontext nicht nur aufgrund seiner Anti-Klages-Schrift von 1937. Bereits zwei Jahre zuvor publizierte Bense einen...

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