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  • Schiller als Kybernetiker
  • Thomas Weitin (bio)

I. Einleitung

Ursprünglich hatte sich Friedrich Schiller zum Geistlichen berufen gefühlt. Entgegen seinen Plänen und dem Willen der Eltern wurde ihm jedoch in der ‚Militärischen Pflanzschule’ des Württembergischen Herzogs Carl Eugen ein Studium der Rechtswissenschaft aufgezwungen, das er ohne Zögern aufgab, als sich anlässlich des Umzugs der Schule von Ludwigsburg nach Stuttgart die Gelegenheit dazu bot. Der Herzog erweiterte die Schule um eine Medizinische Fakultät – auch weil er fürchten musste, nicht alle ausgebildeten Juristen mit Stellen versorgen zu können.1 Schiller nutzte die Gunst der Stunde zum Studienwechsel, der ihn seinen naturwissenschaftlichen und anthropologischen Neigungen näher brachte, zumal ein intensiver Philoso-phieunterricht die Ausbildung zum Arzt begleitete.

Der Bildungsweg erscheint typisch für die Entwicklung eines bürgerlichen Gelehrten im absolutistischen Staat des achtzehnten Jahrhunderts. Das aufstrebende, gut ausgebildete Bürgertum konnte breite Kompetenzen erwerben und blieb doch, war das Elternhaus nicht vermögend, angesichts seiner weiter bestehenden gesellschaftlichen Ohnmacht auf den Adel angewiesen, wenn es galt, das angehäufte symbolische Kapital 2 erfolgreich in eine sichere berufliche Existenz umzumünzen. Wie schwierig das war, das zeigt die Entwicklung Schillers nicht zuletzt im Vergleich zum späteren Freund Goethe. [End Page 485] Durch seinen Ausbildungsgang war Schiller für die Problematik der Erziehung sensibilisiert, die ihn zeitlebens beschäftigen sollte. Dem hohen Maß an Fremdbestimmung, das er erfuhr, stellt er mit den Räubern ein Drama entgegen, das die Freiheit der individuellen Entscheidung kraftstrotzend beschwört. In der nicht minder stürmischen Dramentheorie geht freilich die Kritik am Absolutismus mit Überlegungen zur Erziehung einer neuen, bürgerlichen Gesellschaft einher, die Schiller seinerseits als Theoretiker einer aufklärerischen Außensteuerung des Einzelnen hervortreten lassen. Dahinter steht, wie im Folgenden gezeigt werden soll, eine aspektreiche Auseinandersetzung mit Steuerungsprozessen, die seit den frühen physiologischen Denkversuchen heterogene Wissensbereiche verbindet. Sie bleibt in sämtlichen Werkphasen bestimmend.

Für den Erzähler Schiller geht es um die Einfühlung des Lesers, die durch den schriftkulturellen Wandel hin zur privaten Lektüre der hermeneutischen Fernsteuerung bedarf. Wo es keine direkte Verbindung zwischen dem Autor und seinem Publikum mehr gibt, müssen die Leseanweisungen die Rezeption zu lenken versuchen. Die Wirkungsästhetik, der Schiller in der Spur Lessings folgt, bevorzugt die dramatischen Gattungen, die wegen ihrer unmittelbaren Öffentlichkeit zum entscheidenden Mittel gesellschaftlicher Einfüssnahme aufgewertet werden sollen. Dabei bedient sich die Dramentheorie des Sturm und Drang einer Terminologie der gezielten Leitung und Vorsorge, die wiederum in Schillers medizinischen Dissertationsversuchen vorgebildet ist. Hinzu tritt eine juristische Sprechweise, die das Recht als Ort vorhersehbarer Entscheidungen für die Öffentlichkeit der Schaubühne reklamiert. Aus dieser diskursiven Gemengelage entsteht eine wirkungsästhetische Medientheorie, die nach dem Sender/Empfänger-Modell und also auf der Basis von Fremdregulierung funktioniert. Die in Über Anmut und Würde formulierte Kybernetik der klassischen Ästhetik hingegen entwirft eine Theorie der Bewegung, die ganz auf Selbstregulierung umstellt. Der Begriff der „bewegliche[n] Schönheit“3 wird in dem Maße zentral, wie Schiller bemüht ist, die Steuerungsschwierigkeiten seiner frühen, ins Leben eingreifenden Kunsttheorie unter Kontrolle zu bringen. Was dem idealistischen Kybernetiker in der Theorie gelingt, entzieht sich in der Praxis, das heißt im dramatischen Werk, immer wieder den etablierten Kontroll-standards [End Page 486] und unterläuft die programmatische Geschlossenheit der klassischen Ästhetik. Wir werden das beispielhaft anhand der Affekt-Dramaturgie in Maria Stuart verdeutlichen.

II. Metaphern der Steuerung in Schillers Physiologie

Von Schillers erster Dissertation sind nur die ersten elf Paragraphen des Anfangskapitels ‚Das geistige Leben’ überliefert. Die Quellenlage zeigt uns also immerhin, womit die als Philosophie der Physiologie ausgewiesene Schrift beginnt. § 1 steht unter der Überschrift „Bestimmung des Menschen,“ und Schiller eröffnet ihn, indem er feststellt: „Soviel wird, denke ich, einmal fest genug erwiesen sein, daß das Universum das Werk eines unendlichen Verstandes sei und entworfen nach einem trefflichen Plane.“4 Im Weiteren werden zwei eng verwandte Themen abgehandelt, die Beziehung von Körper und Seele und die physiologischen Bedingungen menschlicher Wahrnehmung. Um die Descartes’sche Zweisubstanzlehre zu überwinden, führt Schiller eine „Mittelkraft“5 ein, die sinnliche und geistige Welt verbinden soll. Was durch die Sinnesorgane aus der Außenwelt auf...

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