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  • Das Schiff, eine Peripetie des Regierens.Nautische Hintergründe von Kybernetik und Gouvernementalität
  • Burkhardt Wolf (bio)

„Das Schiff ist das Urbild einer sehr besondern und strengen Regierungsform. Da es ein kleiner Staat ist, der überall Feinde um sich siehet, Himmel, Ungewitter, Wind, See, Strom, Klippe, Nacht, andre Schiffe, Ufer, so gehört ein Gouvernement dazu, das dem Despotismus der ersten feindlichen Zeiten nahe kommt. Hier ist ein Monarch und sein erster Minister, der Steuermann: alles hinter ihm hat seine angewiesenen Stellen und Ämter, deren Vernachläßigung und Empörung insonderheit so scharf bestraft wird.“1 Nachdem Johann Gottfried Herder im Mai 1769 von Riga aufgebrochen und Richtung Frankreich in See gestochen war, legte er sogleich ein Journal meiner Reise an. Ausgehend von einigen wenigen, aber scharfen Beobachtungen auf dem Schiff versuchte er sich hier zunächst an einer persönlichen Standortbestimmung, stieß auf die Abhängigkeit „unserer Lebensbegebenheiten … vom Wurf von Zufällen“, sann—als pädagogischer Reformator an der Domschule und am Lyzeum in Riga—über die Mittel einer verbesserten Menschenführung nach und spekulierte, als er sich die unablässigen Gefahren des Seeverkehrs vergegenwärtigte, über die nautischen Ursprünge der Religion, des Erzählens und der [End Page 444] mündlichen Überlieferung. Das Schiff erschien Herder somit als eine Art Imaginationsarsenal für die Dichtung und Sitten aller Völker, zugleich aber als Experimentierfeld einer künftigen Anthropologie. Herders poetische Träume über den Wassern sind letztlich „Politische Seeträume“ vom herrschenden „Geist der Gesetzgebung, des Commerzes und der Policei“ und vom künftigen Kurs der europäischen ‚Gouvernements’.2

Sah Herder im Schiff das ‚Urbild’ einer unerbittlich ‚strengen’ Regierungsform, so blickte er damit bereits auf ein abgeschlossenes Kapitel europäischer Seeherrschaft zurück: Einerseits war das Schiff um 1500 zum Medium abendländischer Entdeckungs- und Kolonialunternehmungen geworden, mit dem Hoheitsansprüche über europäische Binnen- und Küstengewässer hinaus erhoben und verteidigt wurden; andererseits erklärte man es, ganz im Gegensatz zu den selbst verwalteten Bordgemeinschaften des Mittelalters, zu einem schwimmenden Gebietsteil, der immer schon der legitimen Autorität des Souveräns unterstehe. Der Vergleich von Schiffsmannschaft und politischem Zweckverband war freilich schon in der griechischen Antike ein Topos, der weniger für einen ‚Despotismus der ersten feindlichen Zeiten’ als für eine ‚sehr besondere Regierungsform’ sprach. Bei Alkaios (ca. 630–580 v. Chr.), dem die frühesten Zeugnisse zugeschrieben werden (etwa Frg. 6 LP) und der als Aristokrat gegen die Tyrannen von Mytilene agitierte, ist das ‚lecke Staatsschiff’ mit einem Orientierungs- und Steuerungsverlust des lyrischen Ichs, der Gemeinschaft und zuletzt des ganzen Kosmos verbunden. Von einer im engeren Sinne politischen Metapher kann aber erst bei den griechischen Tragödiendichtern die Rede sein, die seit Aischylos die Gefährdung der Polis in das Bild der Seenot übersetzen, aus der allenfalls ein guter Steuermann erretten könnte. Platon bemüht den Vergleich von Schiffs- und Menschenführung immer dann, wenn er das Szenario eines drohenden politischen Untergangs beschwört: Die berufenen Steuerleute werden gewaltsam abgesetzt, während sich der Pöbel ohne Sinn und Verstand ans Steuerruder drängt.3

Konkret mag Platon hier an den Peloponnesischen Krieg und an Athens desaströse Niederlage vor Syrakus gedacht haben, grundsätzlich aber fürchtete er an der Thalassokratie den Aufstieg jungaristokratischer und ‚demokratischer’ Schichten, die mit ihrem Eroberer- und [End Page 445] Handelsgeist die phalanx- und oikos-Ethik der älteren politischen Exponenten untergruben. Zwar betonte Aristoteles an der Schiffsführung das politisch vorbildliche Zusammenspiel einer sachbezogenen technê mit gemeinschaftsförderlichem ethos4, dennoch forderte er, den demokratischen Pöbel der Trierenruderer aus der Polisgemeinschaft auszuschließen, und verdächtigte die Nauarchen, ihre Schiffe fernab der Heimat „fast als ein zweites Königtum“ zu führen.5 Von Beginn an erscheint das Schiff als Double der Polis, doch im selben Zug gilt es als deren Anderes und Perversion. Das ändert sich erst, als Rom das Mittelmeer zum mare nostrum rastert, als Schiffe hier wie irgendeine Angelegenheit der res publica verwaltet und als die Bordmannschaften wie Einheiten des regulären Militärs gegliedert werden.

Weniger auf die griechische ‚Nauarchia’ als auf das römische Seeimperium konnte sich mithin das politische Denken der Neuzeit berufen, als es das ‚Staatsschiff...

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