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  • Selbstregulierung als Provokation: Eine kurze Einleitung
  • Marcus Twellmann (bio) and Thomas Weitin (bio)

Seit dem Schwund theonomer Ordnung mit dem Ende des Mittelalters konnte Legitimität nicht mehr ohne weiteres in Bezug auf Gott gedacht werden. Die Neuzeit warf den Menschen auf sich selbst zurück. Von nun an musste er sich gerade gegen einen Willkürgott und gegen eine entfremdete Wirklichkeit behaupten, in der er keine Vorsehung mehr walten sah. Hans Blumenberg erkennt in dieser Selbstbehauptung eine neue Art von Legitimität, die keiner theologischen Rückversicherung mehr bedarf. Er stellt sich damit bewusst gegen die von Carl Schmitt im Zusammenhang seiner Staatslehre formulierte These, alle prägnanten Begriffe der Neuzeit seien säkularisierte theologische Begriffe, und verändert den Sinn der fraglichen Epoche grundsätzlich. Während ihre Neuheit nach Schmitt allein darin besteht, dass sie die von ihr unverändert wiederholten Gedanken als strukturell theologische nicht mehr erkennt, weil sie sich einem Weltbild der Immanenz verschrieben hat, sieht Blumenberg die Neuzeit aus den alten Verbindlichkeiten entlassen. Ein entscheidender Beweiswert kommt in dieser Streitsache naturgemäß denjenigen Denkweisen zu, die als genuin neuzeitliche behauptet werden können. Über die Varianten der gegengöttlichen Selbstvergöttlichung des Menschen hinaus führt Blumenberg ein anderes Denken an, das größere Ansprüche auf Eigenständigkeit erheben darf:

Der Fortschritt des Denkens am Beginn der Neuzeit beruht wesentlich darauf, daß man begann, über die Unordnung Aussagen zu machen und [End Page 439] ihr ohne das Eingreifen eines transzendenten Faktors eine Gesetzlichkeit der Selbstregulation zuzuschreiben.1

Sich selbst zu erkennen, das heißt für den neuzeitlichen Menschen ganz wesentlich, Einsicht zu nehmen in die geschlossenen Systeme der Selbstregulation, die die Natur bereit hält, auf dass er sich daran heuristisch und gesellschaftlich bilden kann. Begonnen hat die Herausbildung des Konzepts der Regulation nach Georges Canguilhem im frühen achtzehnten Jahrhundert. Einer ihrer Anfänge ist die Auseinandersetzung um die Reguliertheit des Kosmos, die Leibniz mit den Anhängern Newtons führte.2 Leibniz hatte im Schriftwechsel mit Clarke das Bild einer Welt verteidigt, die von Anbeginn vollständig reguliert ist. Dafür stand die mechanizistische Metapher eines vollkommenen Uhrwerks, das, einmal aufgezogen, sich unaufhörlich nach unabänderlichen Gesetzen bewegt: Wie der Uhrmacher sein Werk, so habe Gott am Anfang aller Dinge den Weltenlauf für alle Zeit aufs Beste eingerichtet. Diese Vorstellung einer prästabilierten Harmonie, der im Bereich der Mechanik der Satz von der universellen Erhaltung der Energie entsprach, war durch Newtons Vorstellung eines offenen Universums, in dem durch schöpferische Kräfte Neues bewirkt werden kann, in Frage gestellt worden. Im horologischen Bildfeld konnte Leibniz dieser Kosmologie eine Herabsetzung des göttlichen Uhrmachers vorwerfen.3 Tatsächlich aber sollte seine eigene Vorstellung der Welt als eines vollkommenen Mechanismus, der ohne Eingriffe einer transzendenten Instanz in regelmäßiger Bewegung bleibt, eine atheistische Wissenschaft ermöglichen. Auf Napoleons Frage, welche Rolle Gott in seinem Weltsystem spiele, konnte Laplace ein Jahrhundert später antworten: „Sire, je n’ai pas eu besoin de cette hypothèse“.4 In den unterschiedlichsten Bereichen hatte man gelernt, die Erhaltung oder Wiederherstellung von physiologischen wie politischen, mechanischen wie ökonomischen Gleichgewichtszuständen ohne Bezug auf eine [End Page 440] den jeweiligen Funktionszusammenhang transzendierende Instanz zu beschreiben. Über solche Zustandserhaltung hinaus konnte an Organismen oder Mechanismen, die sich durch innere Prozesse selbst stabilisieren, eine dynamische Anpassung an die Kontingenzen einer veränderlichen Umwelt beobachtet werden.

Freilich ist der Gedanke der Selbstregulation nicht nur durch die Kosmo-Theologie selbst geprägt worden, sondern auch durch die technischen Artefakte, die ihr als Modell gedient haben. Eindrucksvoll war Selbstregulation im Bereich des Apparativen durch James Watt realisiert worden. Nachdem Leibniz die Welt nur als Uhrwerk vorstellen konnte, stand seit 1788 ein Fliehkraftregler auch für epistemische Zwecke zur Verfügung: Selbsttätig, ohne Eingriffe von außen, konnte der governor die Drehzahl der Boulton-Watt’schen Dampfmaschine konstant halten, die als staunenerregende Sensation europaweite Verbreitung fand. Dass dieser bestimmte Apparat für Selbstregulation überhaupt emblematisch geworden ist, verdankt sich über seine Modellfunktion für unterschiedliche Erkenntnisgegenstände hinaus5 einer 1868 mit Maxwells Artikel „On Governors“6 anhebenden Formalisierung der in ihm realisierten Denkweise. Daran anschließend konnte Norbert Wiener 1948 unter...

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