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Monatshefte 100.1 (2008) 88-106

"Auf dem goldenen Grund aller Finsternis"— Erkenntnis- , Handlungs- und Seinsgründe in Hermann Brochs Die Verzauberung
Julia Mansour
Universität Stuttgart
Abstract

Hermann Broch's Die Verzauberung (The Spell) embodies a demanding philosophical content, which is not solely expressed in the narrator's comments, but is additionally thematized through the protagonists' actions. Broch's narrator, tragically confronted with various limitations of human cognitive capacities, tries to develop an 'epistemic ethics,' which aims at reconciling human rational and intuitive capacities. With the help of the intricate semantics of "Grund" (German for soil, foundation, reason), Broch thus addresses three interrelated philosophical problems: the foundations of knowledge, action, and existence. (JM; in German)

Einleitung1

Hermann Brochs Denk- und Darstellungsstil erscheint uns heutigen Lesern manchmal befremdlich, nicht selten unzugänglich. Das immer wieder in neuen Anläufen stattfindende Umkreisen bestimmter Grundgedanken, von Michael Winkler auch als "narrative Technik der assoziativen Wiederaufnahme von Schlüsselwörtern und -situationen"2 bezeichnet, ist ein zentrales erzählstrukturelles Moment des Broch'schen Schreibens. In der Forschungsliteratur zu Die Verzauberung wurde bereits auf die—auch innerhalb von Brochs nicht-fiktionalen Essays—semantisch variierten Leitlexeme3 des "Wissens," der "Erkenntnis," der "Ordnung," der "Gerechtigkeit" und der "Mitte" aufmerksam gemacht.4

Nun gilt es, Brochs wiederholt eingesetztem Leitlexem "Grund" mit seinen abgeleiteten Formen wie "unergründlich" und "Abgrund"5 nachzugehen, macht doch die häufige Broch'sche Verwendung dieses Lexems6 auf ein im wahrsten Sinne des Wortes philosophisches 'Grund-Problem' aufmerksam, dem Broch sich in seinen Romanen ebenso stellt wie in den nichtfiktionalen Essays: die Frage nach einer Fundierung von Wissen, Handeln und Sein. Dieses 'Grund-Problem' wird in immer wieder neuen Varianten von Broch thematisiert, doch weder in den essayistischen Arbeiten noch in den fiktionalen Texten stringent einer philosophischen Lösung zugeführt.

Meine Interpretation wird die zentrale Rolle rekonstruieren, die dieser 'Grund-Problematik' in Die Verzauberung zukommt. Interpretationen des Romans haben vor allem die Differenzen zwischen Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie und Die Verzauberung herausgestellt. Bislang unterschätzt wurden die für meine Analyse zentralen erkenntnis- und handlungstheoretisch relevanten Aspekte der Verzauberung,7 die ich bewusst abgrenzen möchte von den bereits in der Sekundärliteratur thematisierten religions- und mythologiegeschichtlichen Elementen.8 Beachtet man nicht nur die explizit in den Erzählerkommentar verlegte Thematisierung philosophischer Fragestellungen, [End Page 88] sondern erschließt erkenntnis- und handlungstheoretisch relevante Aspekte auch aus den Figurenhandlungen selbst,9 weist Die Verzauberung eine größere Nähe zur Schlafwandler-Trilogie auf und verfügt über einen philosophisch anspruchsvolleren Gehalt, als bislang weitgehend angenommen wurde.10

Meine Analyse zielt insbesondere auf drei in der Verzauberung thematisierte Aspekte der 'Grund-Problematik' ab:11 Erstens, wie ist eine nicht-propositionale Fundierung von Überzeugungen möglich, damit diese sich als Wissen qualifizieren? Zweitens, verfügt eine Person über einen epistemischen Zugang zu ihren Handlungsgründen? Und drittens, welcher epistemische Zugang besteht zu den 'Grundlagen des Seins'? Versucht wird in diesen drei Gliederungspunkten, 'basale' Konzepte der philosophischen Erkenntnis- und Handlungstheorie (etwa (Selbst-)Wissen, Rechtfertigung, Begründung) gewinnbringend einzusetzen,12 um zu verdeutlichen, auf welche Weise in der Verzauberung eben jene Broch so bedrängende philosophische Frage nach der Fundierung von Erkenntnis, Handeln und Sein thematisiert wird.

I. Fundierung von Wissen

Genau in der Mitte des Romans schildert der Erzähler in einem Rückblick die Begegnung mit seiner Geliebten, der Ärztin Barbara.13 Zentrales Moment dieses Rückblicks ist der medizinische Problemfall eines Mädchens, das nach einem Unfall in die Klinik eingeliefert wird. Allen, den medizinischen Kenntnissen der Zeit entsprechend erfassbaren Symptomen nach hat das Kind eine Gehirnerschütterung erlitten. Die Überzeugung Das Kind leidet an einer Gehirnerschütterung, die der Ich-Erzähler und alle weiteren ärztlichen Kollegen mit Ausnahme von Barbara teilen, kann durch die Ärzteschaft explizit, intersubjektiv und rational begründet werden: "Es [das Kind] wies alle Symptome einer solchen [Gehirnerschütterung] auf, [ . . . ] kurzum, es war alles eindeutig gegeben" (197).14 Diese Überzeugung ist folgendermaßen abgesichert: Erstens herrscht ärztlicher Konsens, dass, wenn bestimmte Symptome vorliegen, auch eine...

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