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  • Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven
  • Gerhart Hoffmeister
Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven. Herausgegeben von Daniel Weidner. München: Fink, 2006. 294 Seiten. €34,90.

Dieser Band legt vierzehn Beiträge einer Tagung des Zentrums für Literaturforschung (Berlin, 2001) vor, an der sich Wissenschaftler aus dem In- und Ausland beteiligten, u.a. aus Wien, Ottawa, Buenos Aires und Buffalo (New York). In vier Sektionen untersuchen die Autoren Europäische Orte, Europäische Säkularisierung, Bildtechniken und Diskursfiguren. Im Grunde ist hier ein Band der Vergleichenden Literaturforschung entstanden, wobei Vertreter verschiedener Disziplinen Prolegomena zu einer andersartigen europäischen Kulturgeschichte anbieten. Denn die traditionelle Kulturwissenschaft mit ihren bisherigen Unterscheidungen wird insofern in Frage gestellt, als sie selbst als Untersuchungsobjekt in den Mittelpunkt rückt. Dabei konzentriert [End Page 135] sich der perspektivische Blick auf Figuren nicht als festgefahrene Begriffe oder Ideen, sondern als Phänomene, die offen bleiben für Grenzüberschreitungen, Übergänge und Übersetzungen, d.h. mit der Absicht, "das Neue aus der Perspektive der Vergangenheit zu betrachten und umgekehrt" (Vorwort). So untersuchen die Beiträge die Figur als topos, als Bild, als Diskursfigur an spezifischen Konstellationen.

Besonders eindrucksvoll ist Gottfried Liedls Eingangsessay "Übersetzungen zwischen den Kulturen im Spanien der Reconquista," der den bislang vernachlässigten Doppelaspekt der "friedlich-kriegerischen" Akkulturation im Grenzgebiet der Frontera am Beispiel der Alhambra, der Relativierung des Religiösen am Rande zweier Ideologien und einer doppelten Rechtsprechung nachweist. Ein eklatantes Beispiel zeigt die Brisanz der intriganten Machtverhältnisse: Ein islamischer Richter richtet im Namen des christlichen Königs. Das prekäre Gleichgewicht zwischen Islam und Christentum im Grenzgebiet fiel allerdings bald der Inquisition zum Opfer. Unter den weiteren Beiträgen ragen Daniel Weidners "Berlin und Jerusalem. Gershom Scholem, 'Zion' und Europa," Albrecht Koschorkes "Das Begehren des Souveräns. Gryphius' Catharina von Georgien" und Walter Mosers "Novalis' Europa" hervor. Am Leitfaden von Scholems Autobiographie Von Berlin nach Jerusalem (erweiterte deutsche Ausgabe 1994) untersucht der Herausgeber die Frage "[W]as bedeutet es, wenn ein Jude Europa verlässt?" (60)—für das Bild Europas und die Einstellung zum Zionismus in Deutschland und Israel. Das für Scholem bezeichnende "Spiel mit der Grenze" zwischen Politik und Religion, das zugrundeliegende Verhältnis des Zionismus zu den Arabern, der Mandatsmacht England und zur jüdischen Diaspora stellt eine interessante Parallele zur spanisch-islamischen Frontera her, auch insofern als ein Moment der Verständigung mit den Arabern unter dem Druck des an den europäischen säkularen Nationalbewegungen orientierten Zionismus verloren ging.

Im lockeren Anschluss an Sigrid Weigels "Souverän, Märtyrer und 'gerechte Kriege'" im Band bietet Koschorke (nicht: Koschroke [!], wie es im lebenden Kolumnentitel heißt) eine Neuinterpretation von Gryphius' Märtyrerdrama, indem er den Akzent von Catharina auf Chah Abas als die interessantere Figur verlegt, und zwar weil "[a]uf erotischem Niveau [ . . . ] das Begehren des Souveräns jedoch ein Moment wechselseitiger Abhängigkeit ins Spiel" bringt, "das im Widerspruch zu seinem Status als schrankenloser Alleinherrscher steht" (156). Somit gerate er "in die Dialektik zwischen Herrschaft und Knechtschaft," das Kernproblem der klassischen französischen Tragödie. Ist es Hegels "List der Vernunft," die den Chah in der Schluss-Szene die geopferte Geliebte aus dem Himmel anbeten lässt? Erst jetzt "erkennt er den Gott an, den sie ihm vorzieht" (162).

Nach der Einbindung von Novalis' "Europa"-Essay in das "Diskurssystem seiner Epoche" sowie der Untersuchung der "utopischen Dimension des Textes" (219) geht Walter Moser auf die brisante Frage nach seinem "Wirkungspotential" heute ein: "Abgekoppelt wird der Text von spezifischen semantisch realisierten Inhalten, wie etwa vom Ideal einer christlichen Urgemeinschaft mit theokratischer Regierungsform. Er behält aber dabei seine utopische Dynamik bei" (232), braucht jedoch für die Zukunft anstelle der Religion wiederum ein Drittes als ein über den Nationalismus hinausweisendes Bindeglied der europäischen Gemeinschaft. Worin das besteht, bleibt ungeklärt. Diese Situation entspricht der verwirrten Lage in Europa um 1800, die Novalis selbst als eine "gewaltige Gärung" positiv bewertet (221), eine Zeit, die Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) ähnlich als Zeit der Geburt und des Übergangs zu [End Page 136] einer neuen Periode begreift. Es fügt sich glücklich, dass der Band mit einem Beitrag von Dan Diner endet...

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