In lieu of an abstract, here is a brief excerpt of the content:

MLN 117.3 (2002) 650-660



[Access article in PDF]

Notes

"Dämmerpunkte" der Überlieferung.
Autor, Text und Kontingenz

Martin Stingelin


Zu den treuesten Begleiterinnen der Überlieferung zählen ihre Materialität und die vielfältigen Formen der Kontingenz, denen sie sich durch jene ausgesetzt sieht. Autorschaft ist unter diesen Vorzeichen zunächst das Phantasma, immer schon Herr über die Zufälle und Bedingtheiten der Überlieferung gewesen zu sein oder sich wenigstens über diese aufschwingen zu können, sei es als 'Autor' selbst, sei es als dessen Stellvertreter, Editor. Die frag-würdigsten Autoren sind dabei diejenigen, deren Texte die heteronome Bedingtheit ihrer eigenen Überlieferung reflektieren, allen voran Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin.

Der Zufall ist Nietzsches janusköpfiger Verbündeter in der historischen Kritik, der ihm einerseits bei der Entteleologisierung der Geschichte zur Hand geht: "Grundsatz: in der gesamten Geschichte der Menschheit bisher kein Zweck, keine vernünftige geheime Leitung, kein Instinkt, sondern Zufall, Zufall, Zufall - und mancher günstige. Diese sind ins Licht zu setzen. Wir dürfen kein falsches Vertrauen haben und am allerwenigsten uns weiter auf den Zufall verlassen. Derselbe ist in den meisten Fällen ein sinnloser Zerstörer."1 Deshalb kann Nietzsches Autorschaft sich andrerseits nicht gänzlich vom Zufall abhängig machen, will sie sich wenigstens in ihren vielfältigen Bedingtheiten zu erkennen geben. Zu den Strategien, die sich in Nietzsches 'Lebens-Werk' beobachten lassen, die Abhängigkeit des Autors vom Zufall der Geburt, der Begegnungen, der Bücher, der Schreibgeräte, [End Page 650] der Lebensumstände, der Ernährung, der Stimulanzien, des Ortes, des Klimas, kurz: der Produktionsbedingungen und Begleitumstände des Schreibens zu reflektieren und diesen gleichzeitig zu bändigen,2 zählt die Umkehrung der überlieferungsgeschichtlich bedeutsamen Hierarchie zwischen 'Autor', 'Schreiber' und 'Editor'. Tatsächlich hielt Nietzsche seine Manuskripte für "'unedirbar'": "Das kommt von dem Princip des 'mihi ipsi scribo'", wie er Paul Rée gegenüber am 29. Mai und am 10. Juni 1882 bekannte,3 weshalb er sie zur Abschrift nach Möglichkeit seinem Sekretär Heinrich Köselitz alias Peter Gast überließ wie das Manuskript der Morgenröthe am 25. Januar 1881: "Nun heißt es wieder: 'Freund, in Ihre Hände befehle ich meinen Geist!' und noch mehr: 'in Ihren Geist befehle ich meine Hände!' Ich schreibe zu schlecht und sehe alles krumm. Wenn Sie nicht errathen, was ich denke, so ist das Manuscript unentzifferbar."4 Eine ähnliche Formulierung findet sich noch am 26. Februar 1888: "Eben merke ich, daß die Finger blau sind: meine Schrift wird nur dem erräthlich sein, der die Gedanken erräth . . ."5 Nietzsche selbst hat die durch seine Kurzsichtigkeit bedingte, anachronistische Arbeitsteilung zwischen dem Autor (der sich gelegentlich gänzlich aufs Diktieren beschränkte) und dem Schreiber—die im 14. Jahrhundert durch die Entwicklung der gotischen Kursive und eines Systems von Abkürzungen aufgehoben worden ist, womit zuletzt alle Arbeitsgänge von der Konzeption bis zur Niederschrift des Druckmanuskripts in einer Person zusammengefallen sind6 —zum Schauplatz einer historischen Reevaluation des Konzepts 'Autorschaft' und der in ihrem Namen in Anspruch genommenen Autorität gemacht: "Im Grunde hat Herr Peter Gast, damals an der Basler Universität studirend und mir sehr zugethan, das Buch [Menschliches, Allzumenschliches] auf dem Gewissen. Ich diktirte, den Kopf verbunden und schmerzhaft, er schrieb ab, er corrigirte auch, - er war im Grunde der eigentliche Schriftsteller, während ich bloss der Autor war."7 Der "eigentliche Schriftsteller", "bloss der Autor": Darin lediglich eine Ironie zu sehen, die das Gegenteil von dem, was sie sagt, das heißt 'eigentlich' die Apotheose der 'reinen', von ihren körperlichen, technischen und diskurshistorischen Voraussetzungen unabhängigen Autorschaft meint, hieße gerade die Problematisierung ihres Status verkennen, die Nietzsche hier leistet, indem er den 'Schriftsteller' über den 'Autor' und damit die Frage nach ihrem jeweiligen 'Wert' im Schöpfungsprozeß und in der Überlieferungsgeschichte stellt.8

Daß auch in der Überlieferungsgeschichte der Zufall herrscht, wird in Walter Benjamins Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" nicht nur reflektiert: "Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis...

pdf

Share