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MLN 117.3 (2002) 576-583



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"noch ein Blättchen Papier für Dich"
Zu Heinrich v. Kleists Brief an Wilhelmine v. Zenge vom 20./21. August 1800

Peter Staengle


Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Briefen und Briefkorpora aus der Zeit vor Einführung von Schreibmaschine und PC beruht bis heute im wesentlichen auf Editionen, die den Spezifika ihres Gegenstandes nur unzureichend Rechnung tragen. Dieser Umstand hielt sich im Hintergrund, solange im philologischen Zugriff auf die epistolare Überlieferung eines Schriftstellers biographische, lexikalische, stil- oder motivorientierte Fragestellungen dominierten, die Homogenität eines Brief-'Werks' vorausgesetzt und dessen Stellung zum dichterischen Oeuvre nicht problematisiert wurde, solange der Werkbegriff unerschüttert blieb und nicht Autoren eine literarische Entdeckung, zumindest Rehabilitierung erfuhren, deren Domäne das Briefschreiben war. Inzwischen aber genießt der Brief als Forschungsobjekt eigene Dignität, und es zeichnet sich ab, daß zwischen dem Reflexionsstand und den editorisch geschaffenen Forschungsvoraussetzungen ein immer prekärer werdendes Mißverhältnis sich ausbildet.

Auf der einen Seite kann man beobachten, daß die Briefforschung seit geraumer Zeit viel von ihrer früheren Naivität eingebüßt hat. Weitgehend durchgesetzt hat sich das Bewußtsein von der ambivalenten Natur des Briefes als eines zugleich pragmatisch-kommunikativen [End Page 576] wie literarisch-inszenatorischen Mediums und die Einsicht in das ambivalente "Spannungsverhältnis von Literatur- und Gebrauchsform, von Erlernbarem und Natürlichem." 1

Auf der anderen Seite sind wir jedoch fast ausschließlich auf Editionen angewiesen, in denen die Briefe eines Dichters bereits qua Buchdruck zu Literatur geworden zu sein scheinen. In ihnen sind die Ambivalenzen des Brieflichen kaum mehr sichtbar. Die Handschrift, in der sich der private, nicht-öffentliche und also in einem emphatischen Sinn anti-publikable, publikationsresistente Charakter des Briefes kristallisiert, ist getilgt.

Der Ausschluß der Wiedergabe von Handschriften aus Briefeditionen in Verbindung mit einem typographisch uniformierenden Druck (womöglich noch als Fließtext) nimmt einen problematischen Effekt inkauf. Das Verfahren produziert eine Unschärferelation zwischen dem dichterischen und dem brieflichen Korpus, worin sich der kategoriale Unterschied von Brief und poetischem Text auflöst. Wo Briefe editorisch wie Werke präsentiert werden, erzeugt dies die Suggestion, Briefen eigne dieselbe, zumindest tendenziell dieselbe Formbestimmtheit wie poetischen Texten.

Eine solche Zurechnung des Briefkorpus zum poetischen Oeuvre bildet freilich nur den einen Pol einer in sich falschen Alternative. Der ihm entgegengesetzte zeichnet sich in einigen derzeit kurrenten Texttheorien ab, in denen der Brief inzwischen jene forschungslogische Attraktivität erlangt hat, welche dem poetischen Text im Zuge der Infragestellung traditioneller poetologischer Kategorien, namentlich der des 'Werks', zunehmend strittig gemacht wird. Und so erfährt der Brief merkwürdigerweise ausgezeichnete Aufmerksamkeit gerade dort, wo das Verhältnis von Rede und Schrift, von Präsenz und Aufschub in den Vordergrund tritt, wo es um die Dekonstruktion von Polaritäten wie Anwesenheit und Abwesenheit, von wörtlicher und metaphorischer Bedeutung, von Sachreferenz und Selbstbezüglichkeit geht.

Beide idealtypisch skizzierten Perspektiven scheinen mir bei aller polemischen Entgegensetzung zumindest in einem Punkt stillschweigend miteinander übereinzustimmen. Die traditionelle, alles Geschriebene ins Oeuvre integrierende Perspektive wie die ihr opponierende, das Oeuvre ins Geschriebene dissolvierende (Stichwort: Schreibstrom) sind gleichermaßen auf die typographische Gestalt— [End Page 577] im Unterschied zur skriptoralen—fixiert, und in dieser Gestalt verbirgt sich, was die überwiegende Mehrzahl der für die Forschung zur Verfügung stehenden Briefeditionen angeht, ein grotesker Fehlschluß. Für die Zeit vor der Einbürgerung von Schreibmaschine und PC lautet er: Allen Drucken liegen Manuskripte zugrunde, also sind alle Manuskripte Vorstufen für Drucke (und seien es nur solche in Editionen), technisch defiziente Erscheinungsweisen von Drucken.

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Einen Vorschlag, wie sich der Eigensinn handschriftlicher Kommunikation in Briefeditionen bewahren und zur Geltung bringen ließe, machen die Briefbände, die im Rahmen der von Roland Reuß und mir seit 1988 veröffentlichten Brandenburger Ausgabe der Werke und Briefe Heinrich v. Kleists (BKA) erscheinen. Der erste von drei Bänden—er versammelt das überlieferte Material bis April 1801, bis zu Kleists Aufbruch aus Berlin zur ersten Parisreise—liegt seit Sommer 1996 vor. 2 Zu ihm, genauer: zu einem in ihm edierten Brief, möchte...

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