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MLN 117.3 (2002) 527-543



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Grattier, Gratthier oder Steinbock?
Zur Textkonstitution bei Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller

Walter Morgenthaler


Vorbemerkung

Die folgenden Ausführungen handeln von so verschiedenen Dingen wie der historisch-kritischen Ausgabe der Werke von C. F. Meyer und von Gottfried Keller. Die eine (HKMA), ein Pionierwerk unter den neugermanistischen Editionen, wurde 1996—38 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes—mit dem letzten Apparatband zu Meyers Gedichten abgeschlossen, 1 die andere (HKKA) ist im gleichen Jahr 1996 mit ihrem Einführungsband erstmals an die Öffentlichkeit getreten. 2 Beide Ausgaben verbindet—ausser der prekären Freundschaft der von ihnen edierten Autoren—vor allem, dass die jüngere von der älteren viel gelernt und der Herausgeber der älteren die [End Page 527] jüngere ausgiebig kritisiert hat. 3 Mit einiger Verspätung versuchte ich (als Projektleiter der HKKA) meinerseits, über das Trennende etwas mehr Klarheit zu gewinnen. Das Ergebnis sei hier mitgeteilt.

Conrads Gratthier

Mit einiger Schadenfreude hab' ich in Ihren Gedichten bereits bemerkt, daß die neue Orthographie in Ansehung des Th im Druck in die Brüche gegangen ist. Ich habe das gleiche Schicksal mit einer neuen Auflage der Zürch. Novellen, in der das arme h zum Teil exstirpirt, zum Theil stehen geblieben ist.

Mit diesen Worten äusserte sich Gottfried Keller am 26. Oktober 1882 gegenüber C. F. Meyer zu dessen ihm zugestellten Band der Gedichte. Im Hintergrund steht die Frage nach der "neuen Orthographie", welche im Januar 1880 durch den preussischen Kultusminister von Puttkamer an den Schulen eingeführt worden war und unter anderem die bisherige th-Schreibung bei Dehnungssilben—ein Hauptinteressenpunkt in der öffentlichen Diskussion—neu regelte. 4 Keller selbst schloss sich der neuen Regelung an und begann im Sommer 1882 anlässlich der 3. Auflage seiner Züricher Novellen eigenhändig mit den entsprechenden Korrekturen in den Druckfahnen, unterstützt durch seinen sich anfangs sträubenden Verleger Ferdinand Weibert. Das ganze Unternehmen hatte grosse Uneinheitlichkeiten in dieser Auflage zur Folge, was Keller aber nicht hinderte, zu eben dieser Zeit im Manuskript für die Gesammelten Gedichte von Anfang an—jedenfalls bezüglich der th's—ziemlich konsequent die neue Orthographie zu verwenden: nach schweizerischer Massgabe über die deutsche Regelung hinausgehend. 5 Die "Exstirpirung" des "armen h", mit der er sich auch bei den Neuauflagen der anderen Werke abquälte, hatte für Keller offenbar einen symbolischen Wert, [End Page 528] war eine Art politischer Akt gegen das Zopfige, von dem sich die deutschen Autoren und grossen Zeitschriften noch immer nicht zu lösen bereit wären (so in einem Brief vom 1. Juni 1882 an Paul Heyse) 6 .

Kellers Brief wird hier zitiert nach dem 1998 erschienenen ersten Band der neuen, historisch-kritischen Ausgabe von Meyers Briefwechsel, in dem in grosszügiger Weise sämtliche Briefe zwischen Keller und Meyer faksimiliert und buchstabengetreu transkribiert werden. 7 Dadurch erhält der Leser erstmals Einblick in das subtile Spiel der Buchstaben, deren Relevanz sogar von Editoren gern unterschätzt wird. Im Druck der Züricher Novellen ist "das arme h zum Teil exstirpirt, zum Theil stehen geblieben"—Kellers Schreiben über die Orthographie reflektiert sich in der Orthographie seiner Schrift. 8 Solches wahrnehmen zu können, bringt nicht nur eine Vermehrung der Erkenntnis, sondern auch ein Vergnügen daran, auf das bis dahin verzichtet werden musste. Die bisherige fragmentarische Ausgabe von Meyers Briefen versichert zwar, "die zuweilen willkürliche Orthographie" beizubehalten, ist aber unzuverlässig und transkribiert genau an der diskutierten Stelle beide Male "Theile" 9 , während umgekehrt die Gesamtausgabe von Kellers Briefen modernisierend zweimal "Teile" setzt. 10

Die orthographisch getreue Wiedergabe der Briefe ist umso aufschlussreicher, als natürlich auch C. F. Meyer direkt von der zeitgenössischen Orthographiefrage betroffen ist und im eigenen Schreiben ein schwankend bleibendes Verhalten zeigt. Auch im literarischen Produktions- und Distributionsprozess wird Meyers Orthographie, ähnlich wie bei Keller, zeitweise zum Kreuzungspunkt divergierender Interessen: verursacht weniger durch den in dieser [End Page 529] Frage offenbar nachsichtigeren Autor selbst als durch seinen Vetter Fritz Meyer und durch seine Schwester Betsy, die beide, ausgestattet mit zum Teil weitgehenden...

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