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MLN 117.3 (2002) 671-674



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Book Review

Aufträge aus dem Bleistiftgebiet.
Zur Dichtung Robert Walsers


Elke Siegel, Aufträge aus dem Bleistiftgebiet. Zur Dichtung Robert Walsers. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 328). 184 pages.

Mit dem kürzlich erfolgten Abschluß der Edition von Robert Walsers Mikrogrammen 1 haben die quantitativen und qualitativen Eigenheiten von Walsers schriftstellerischer Produktion des letzten Jahrzehnts seines Schaffens (1924-1933) Konturen angenommen, die es ermöglichen, schärfere—und vor allem nüchternere—Blicke auf das seit den 50er Jahren zumindest sichtbare Geheimnis seines 'Bleistiftgebiets' zu richten. Um einige Ausgangspunkte dieser Präzisierung hier nur zu streifen: Quantitativ hat sich Walsers 'Werk' dieser Dekade durch die Mühen von Bernhard Echtes und Werner Morlangs Entzifferungsarbeit mehr als verdoppelt, es offenbart so ein bedenkenswert reziprokes Verhältnis zu Walsers zunehmender Marginalisierung im literarischen Leben der 20er und frühen 30er Jahre; qualitativ erweist sich die hartnäckig unter Pathologieverdacht stehende Eigenart der radikalen Minimalisierung der Schriftzüge und der Verwendung heterogener und zu einem großen Teil semantisch vorbelasteter Papiermaterialien als überaus effizientes und poetologisch hochdifferenziertes Produktionssystem.

Hat sich auch die Walser-Forschung in den letzten Jahren für überwiegend entstehungsgeschichtliche und biographische, aber zunehmend auch poetologische Aspekte der 'Mikrogramme' zu interessieren begonnen—erklärt wurde damit Walsers Methode keineswegs. Problematisch bleibt vor allem der Status der—um Walser wörtlich zu nehmen und ein erstes Mal den präzisen Scharfblick von Siegels Studie hervorzuheben—Bleistift-'Aufträge'. 2 Daß sie quer zu den gängigen und an sich nicht unumstrittenen textkritischen Kategorien wie 'Entwurf' oder 'Fassung' stehen, wird immer wieder hervorgehoben; daß sie die Frage nach der 'Lesbarkeit' von 'Schrift' allein schon durch ihre radikale Materialität stellen, ist im Wortsinn augenfällig. Die daraus zu ziehenden Konsequenzen allerdings lassen auf sich warten. Das zeigt allein schon das editorische Konzept der erwähnten 'Mikrogramm'-Edition. Sie präsentiert vor allem anderen 'neue Walser-Texte'. Die Irritationsmomente, welche die Transformation der Bleistift-Manuskripte in gedruckten Text, des "Bleistiftsystems" in eine geordnete Abfolge von thematisch und nach den herkömmlichen Gattungskonventionen gruppierten Einzeltexten mit sich bringen müßte, werden, wenn nicht beseitigt, so doch gut genug versteckt, daß sie von einem großen Teil der Forschung schlicht übersehen werden können.

Elke Siegels Monographie wäre schon allein deshalb hervorzuheben, weil sie genau diesen Irritationen ihr Recht läßt. Sie geht aus von einer "Aporie des Lesens" (14) und des Schreibens, die keineswegs auf das "Bleistiftgebiet" beschränkt bleibt, sondern als Grundfigur, als "Nullpunkt" (21), der Walserschen Textinszenierungen entdeckt werden muß; einer Aporie, in der "das Lesen noch als Gegenstand von veröffentlichten Texten, die scheinbar [End Page 671] kein Entzifferungsproblem darstellen, selbst zum Problem wird" (16). Dieser folgt sie, mit aller Aufmerksamkeit noch für die subtilsten semantischen und litteralen Verästelungen, denen die Lektüre sich aussetzen muß, um an ihr die Frage nach dem allgegenwärtigen "ich" von Walsers 'Texten' zu stellen (Kap. 1), um der "Topographie" der 'Mikrogramme' und der Genealogie des Schreibens im Walserschen Produktionssystem nachzuspüren (Kap. 2), um in Walsers "Brief an ein Mitglied der Gesellschaft" Elemente einer darauf ausgerichteten Poetologie zu entdecken (Kap. 3), um die Relation von Schreiben und Zeichnen zu umreißen (Kap. 4), schließlich um die Interferenz zwischen Prosa und Poesie poetologisch fruchtbar zu machen (Kap. 5).

Als Gravitationsfeld für Siegels Lektüren dient eine klug ausgewählte Konstellation von Texten: Zunächst Robert Walsers vielzitierter Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, der mit den Hinweisen auf das "Bleistiftsystem, das mit einem folgerichtigen, büreauhaften Abschreibesystem verquickt ist", "eine ganze Schaffens- und Lebensgeschichte" zu erzählen vorgibt. 3 Dann das erwähnte Prosastück "Brief an ein Mitglied der Gesellschaft", dessen Tintenmanuskript dem Brief an Rychner beilag, den auf den 'Mikrogramm'-Blättern 40 und 41 'aufgetragenen' Bleistift'entwurf' des "Briefes", schließlich die auf Blatt 41 über, neben und zwischen diesem Prosastück notierten Gedichte. 4 Es ist nicht einfach, Siegels dicht formulierte Annäherungen an Walsers Texte resümierend darzustellen; dennoch sei dies an ihrer Auseinandersetzung...

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