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MLN 117.3 (2002) 544-559



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Schrift und Textkritik.
Vorläufige Überlegungen zu einem Editionsproblem in Robert Walsers Mikrogrammen am Modell der "Bleistiftskizze"

Wolfram Groddeck


Als die erste Gesamtausgabe der Werke Robert Walsers abgeschlossen war, richtete sich das Interesse der Walser-Kenner alsbald auf eines der seltsamsten Konvolute, das man je im Nachlass eines Dichters aufgefunden hatte: auf ein Bündel von 526 unterschiedlich großen Zetteln (der größte im Format einer Buchseite, der kleinste in der Größe einer Visitenkarte), vollgeschrieben mit mikroskopisch kleinen Schriftzügen. Das Konvolut wurde in einer Schuhschachtel gefunden und dem Vormund Robert Walsers, dem Schriftsteller und Literaturmäzen Carl Seelig schon 1937 ausgehändigt. Der wußte zwar nicht recht, was er damit anfangen sollte, denn er konnte die Winzigschrift nicht lesen. Als er dann 1957 in der Oktobernummer der Kulturzeitschrift du eine Seite daraus faksimiliert veröffentlichte, erklärte er die abgebildete Schrift vorsichtshalber zur "Geheimschrift". Jochen Greven, später der Herausgeber der Sämtlichen Werke Walsers, bewies aber, dass man diese Schrift sehr wohl entziffern konnte—und seither war das Interesse an den von Greven so bezeichneten Mikrogrammen geweckt. Es dauerte aber noch zwei Jahrzehnte, bis man sich daran machte, das ganze Konvolut systematisch zu entziffern und zu publizieren. Das 1980 durch Werner Morlang und Bernhard Echte begonnene Unternehmen einer vollständigen Edition [End Page 544] der Mikrogramme konnte schließlich im Jahr 2000 abgeschlossen werden. Es erhielt, nach einem Wort des Dichters, den Gesamttitel: Aus dem Bleistiftgebiet. 1 Die in gewisser Hinsicht vollständige Entzifferung der gigantischen Textmenge in kaum lesbar kleiner Schrift kann als eine der eindrücklichsten philologischen Leistungen der letzten Jahrzehnte bezeichnet werden. Das Interesse der Literaturwissenschaft an diesem eigentümlichen Dokument nimmt seitdem ständig zu, da die Erforschung dieser Blätter einen tiefen Einblick in die Geheimnisse der poetischen Kreativität verspricht: Die Mikrogramme stellen in ihrer Gesamtheit eine Werkstatt oder einen in sich wohlorganisierten und zugleich labyrinthischen Textspeicher dar, dessen visuelle Winzigkeit sich umgekehrt proportional zum Ausmaß der darin verwahrten Textmenge verhält. Auf diesen Textspeicher hat sich Walser bei seiner publizistischen Arbeit ständig bezogen. Die meisten der seit 1924 von Walser selbst publizierten Prosastücke wurden zuerst in dem "Bleistiftgebiet" der Mikrogramme vorentworfen und dann akribisch mit Tinte und Feder abgeschrieben.

In der sechsbändigen Ausgabe der Mikrogramme sind nun aber nur jene Aufzeichnungen abgedruckt, die Walser nicht abgeschrieben hat. Die editorische Beschränkung auf die 'unbekannten Texte' Walsers kann verlegerische Gründe geltend machen, die sich zunächst gut nachvollziehen lassen. Denn hätten die Herausgeber auch die von Walser in Reinschrift abgeschriebenen Aufzeichnungen in die Edition aufgenommen, wäre sie ungefähr doppelt so umfangreich geworden und hätte statt gut 2000 Seiten Text etwa 4000 Seiten oder statt sechs Bänden deren zehn oder zwölf.

Der leitende Gesichtspunkt für die Edition des Mikrogrammkonvoluts ist an einem traditionellen Textbegrifforientiert: Alle die Bleistiftentwürfe, die Walser noch selbst abgeschrieben hat und deren 'Texte' sich daher in den Sämtlichen Werken 2 auffinden lassen, sind in der Mikrogrammedition—abgesehen von einigen exemplarischen Beispielen im Anhang der Ausgabe—weggelassen, auch wenn sie varianten Wortlaut aufweisen. Text bleibt Text, und nicht zufällig sind die neuentzifferten Texte der einzelnen Mikrogramme in der [End Page 545] Ausgabe nach Genres geordnet: So werden Prosastücke und Gedichte, auch wenn sie auf den Manuskripten zusammenstehen, in verschiedenen Abteilungen gedruckt. Ein tabellarischer Anhang, der die einzelnen Mikrogrammblätter auflistet, gibt Auskunft über die ursprüngliche Konstellation der Aufzeichnungen im Konvolut. Mit Hilfe der beigegebenen Faksimiles kann man sich so eine ungefähre Vorstellung von den authentischen handschriftlichen Verhältnissen machen.

Was aber nach dem Abschluss der Mikrogrammedition nun am Horizont der philologischen Aufmerksamkeit sichtbar wird, ist die Frage nach der Edierbarkeit von Schrift. Die klassische Textkritik befasst sich ja—wie es der Name sagt—nur mit Text. In der Bemühung um die korrekte Überlieferung des Textes, um seine 'Reinheit', wird das Medium der Überlieferung, die Schrift, zu etwas Kontingentem: Jede Edition—mit Ausnahme vielleicht der neuerdings immer wichtiger werdenden Faksimile...

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