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MLN 117.3 (2002) 560-575



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Löschblatt.
Vom Umgang mit Walter Benjamins Handschriften

Davide Giuriato

[Figures]

"Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben."

(W.B.)

I. Das Löschblatt "hier vor mir"

Zwielichtig mag der Gegenstand erscheinen, der hier aus zwei Perspektiven durchleuchtet wird. Ein Löschblatt, das bisweilen in heterogenen Kontexten in Benjamins Oeuvre auftaucht und dessen Verschwinden an wieder anderem Ort untröstlich beklagt wird. Ein Gegenstand, der kaum ein Gegenstand genannt werden kann und der gleichwohl gelegentlich auf Benjamins Schreibtisch zu finden ist. 1 Es ist ein unverlierbar verlorener Begleiter: Es taucht unter Federn, Tintenfässern und Heften auf und zählt zu jenem Schreibinstrumentarium, das mit einer Selbstverständlichkeit vergessen wird, als besäße es die absorbierende Eigenschaft des Vergessens selbst. 2 Als [End Page 560] Nebenschauplatz des Schreibens—im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne 3 —wird es in diesem Beitrag dazu herangezogen, Walter Benjamins "Berliner Chronik"—jene Kindheitserinnerungen, denen alsbald jene der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" folgten—jenseits ihrer zwei Texteditionen 4 als Handschrift, als eine Benjamins Schreiben inhärente 5 Möglichkeit zur Kritik am Text 6 zu lesen.

Doppelwertig ist die Gegenwart des Löschblattes bereits bei dessen erstmaliger, eigentlich zweitmaliger Nennung 7 in Benjamins unter dem Titel "Eidos und Begriff" stehenden, als Manuskript einem Brief an Gershom Scholem vom 10. 2. 1918 8 beigelegten Notizen zu Paul Linkes 9 Studie "Das Recht der Phänomenologie". Die sonst sorgfältig [End Page 561] verfertigte Abschrift weist an dieser Stelle, in deren Kontext Benjamin eine begrifflich reduzible Diskrepanz zwischen empirischem und eidetischem Bereich darzustellen versucht, eine doppelte Streichung auf, die die Verdoppelung des hic et nunc—"dieses roten Löschblattes hier vor mir" 10 —nicht in die Simplifizierung eines jenseits des Erfahrungsmäßigen liegenden Gegebenem überhaupt zurücknimmt, sondern jenseits eindeutiger, zunächst zweifach affirmierter Zuweisung auf den Bereich des Vorliegenden in der Streichung die semantische Valenz verdoppelt: Die Doppelstreichung produziert nämlich eine Spannung von metaphorischer und wörtlicher Rede des Gegebenen, des "hier vor mir", als Zeichen einer ungelösten und einstweilen bei Benjamin unlösbaren Unentschiedenheit im Akt des Schreibens und wirft die Frage nach der Stelle des Löschblattes auf. DieseStelle—übrigens die einzige Streichung auf der ganzen Handschrift 11 —exponiert hiermit eine durchaus positiv zu bestimmende Unklarheit der Rede, die durch deren editorische Behandlung einer die Streichung tilgenden Textkonstitution 12 eine ähnliche Transparenz erfährt, wie sie mit Nachdruck von Paul Linkes Beitrag in den Kant-Studien gefordert worden war:

Die Sprache erschwert es uns hier außerordentlich zur Klarheit zu kommen. Es liege etwa der Ausdruck vor: diese bestimmte Rotschattierung, wie ich sie an dem soeben von mir benutzten Löschblatt vorfinde. Wie leicht werde ich verleitet, in ihm ein unzweideutiges und ganz typisches Beispiel repräsentiert zu finden für etwas, das jeglichem Allgemeinen aufs handgreiflichste entgegengesetzt ist - ein gefährlicher Irrtum! 13

Die Transparenz der Sprache—Benjamin meint, Linke habe "wohl überhaupt nicht klar gesehen"—ist hier gerade dadurch zu erreichen, daß die Aussage über das tatsächliche Löschblatt als eine ideelle erkannt wird, die der Erfassung des Individuell-Tatsächlichen nicht bedarf. Die Sprache aber steht dabei verklärend im Weg. [End Page 562] Benjamin versucht, durch die Unterscheidung von Wesen und Begriff mehr Klarheit zu gewinnen und eine Theorie des Begriffs zu postulieren, die das "singulärtatsächliche" einzubeziehen vermag: "Aber - dies ist nun klar - zum Begriff dieses Löschblattes gehört daß der Ort an dem es existiert nicht nur eidetisch bestimmter Ort sondern tatsächlicher, singulär-tatsächlicher bestimmter Ort sei." 14 Freilich begegnet diese Theorie einer Schwierigkeit, die gerade in der für sie konstitutiven Differenz von Wesen und Begriff eine Ambiguität mitführt, die noch in der rhetorischen Verfaßtheit von Benjamins Notizen ebendiese Differenz zu durchkreuzen scheint: "das singulär-tatsächliche ist für den Begriff wesentlich, für das Wesen aber ist es gerade unwesentlich." Die chiastische Anordnung: Begriff—wesentlich / Wesen—unwesentlich scheint zunächst die Opposition, welche von der Notiz schon im Titel hergestellt wird, zu...

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